Hybris
Nguyen Xuan Huy

Hybris
8. September 2023 - 18. November 2023
Frankfurt


 
Wie kommt es, dass ein 1976 in Vietnam geborener Künstler sich in der europäischen Kunst und Kultur so ungemein kenntnisreich bewegt? Schon als Kind stieß Huy auf französische Kunstbände aus der Indochina-Zeit und war fasziniert. Er wagte sich an Kopien nach Géricault, Delacroix und Boucher. Bald zeichnete er anatomische Schnellskizzen, Porträts und Perspektiven.
 
Siebzehnjährig kam der junge Mann nach Deutschland, lernte binnen anderthalb Jahren die Sprache, holte das Abitur nach und studierte an der Kunsthochschule Burg Giebichenstein in Halle sowie der Ecole des Beaux-Arts in Bordeaux. In Europa konnte Nguyen Xuan Huy die in den Büchern seiner Kindheit abgebildeten Werke im Original besuchen. Er beschäftigte sich mit Maltechniken und folgte der Ölmalerei zu ihren Ursprüngen, vom alla prima der Gegenwart bis hinab zu den Lasuren der alten Meister. Nguyen arbeitet traditionell, er baut Komposition, Perspektive, Dynamik, Farbe und Licht bewußt und sorgfältig auf. Er engagiert Modelle.
 
Der Körper ist in Nguyens Malerei immer präsent. Seine Darstellung gehört zu den Traditionen der europäischen Kunst von der Antike bis zur Gegenwart. Das Weglassen der Kleidung bedeutet Verzicht auf Mode und zeitliche Einordnung und erleichtert damit den Zugang zur Darstellung ewig wiederkehrender Sachverhalte und Handlungsmuster. Zugleich birgt Nacktheit erotisches Potenzial, eine Energie, die Macht verleiht. Ihr Gebrauch (wie auch ihr Mißbrauch) gehört zu unserer Kultur.
 
Nguyens erste große Werke nach dem Studium setzten sich mit der jüngeren Gegenwart Vietnams auseinander, dem Krieg und dem kommunistischen Regime. Inzwischen, nachdem der Künstler mehr als die Hälfte seines Lebens in Europa verbracht hat, ist seine neue Heimat in den Fokus gerückt. Er wendet sich unseren Problemen zu, die weniger augenscheinlich, aber ebenso gravierend sind wie die seines Herkunftslandes. Zahlreiche Kompositionen loten Aspekte unserer Existenz, unsere Hybris, Blindheit und Ignoranz aus. Andere Werke verweisen hingegen auf die Stärke und Schönheit des menschlichen Willens und die Option, gegenüber Repression und Manipulation standhaft zu bleiben.
 
Der verhaltene Optimismus der letzten Jahre ist aus dem neuesten Schaffen des Künstlers weitgehend verschwunden. Die Attraktivität der Malerei berührt das nicht – sie wird zunehmend virtuoser, die Kompositionen immer vielschichtiger und die Erzählungen komplexer.

Nguyens Gemälde „Irrlichter“ gehört zum kunsthistorischen Typus der Nachtbilder. Dichte wolkenähnliche Gebilde verfinstern den Himmel. Die siebzehn Protagonisten erscheinen in ein geisterhaftes Bühnenlicht wie bei Toulouse-Lautrec oder Degas getaucht. Fünfzehn der Dargestellten machen sich fieberhaft, aber ohne erkennbaren Sinn zu schaffen, zwei haben sich ängstlich zusammengekauert. Die gesamte Szenerie wirkt theaterhaft, die Gegenstände wie Kulissenteile oder Requisiten. Der Boden fehlt, alles scheint im Raum zu schweben. Mit dem Bildtitel verweist der Künstler auf Irreführung und Täuschung. Die Situation ist erkennbar und zeitgemäß: Anstelle von Auswegen präsentiert die Theaterleitung ein Programm, das immer tiefer ins Chaos führt.
 
„Die Quelle“ erinnert an William Gibsons Utopien der Vernetzung von Gehirnen und Computern im Cyberspace – und zugleich an die aktuellen Pläne zur Erschaffung eines Metaversums, in welchem das Angebot an materiellen Gütern zunehmend ersetzt wird durch digital vermarktete Träume und Phantasien. Künstliche Intelligenzen übernehmen die Macht – vorgeblich zum Besseren des ganzen Planeten, aber de facto, um einer Elite die totale Herrschaft zu sichern. In „Expectation“ erscheint das Individuum bereits als passives Objekt, vielleicht sogar als Ware. Schläuche versorgen die Körper mit Nährlösung. Schonbezüge und Verpackungsfolien erinnern an ein Möbellager, ein Kunstdepot. Die Menschheit verabschiedet sich aus der aktiven Existenz und mutiert zur Verfügungsmasse von Algorithmen.
 
Die dramatische Lichtkomposition, welche Nguyen Xuan Huy für sein Werk „Exercises 2.0“ wählte, verweist auf die Menetekel unserer Tage. Der wie von einem Blitzschlag grell beleuchtete Vordergrund kontrastiert mit düsterem Abendleuchten. Eine bizarre Szenerie wird dem Dunkel entrissen. Nackte Männer und Frauen zerren wie im Wahn an rotbefleckten Laken, in die sie sich verwickelt und verkrallt haben. Unter- und Hintergrund der alptraumartigen Szenerie bestehen aus Bergen blutigen Fleisches. Das großformatige Werk führt ikonografische Topoi des Künstlers der vergangenen Jahre zusammen. Die Laken stehen für Verstrickungen, den Schlaf der Vernunft und Realitätsverweigerung. Keiner der Protagonisten schaut auf, keiner nimmt die Welt wahr, die Augen sind geschlossen oder der Blick gesenkt. Die Fleischgebirge verbildlichen Hemmungslosigkeit und Gier. In seiner außerordentlichen Drastik nimmt „Exercises 2.0“ Bezug auf die gegenwärtige Situation Europas am Rande einer Katastrophe wie auch auf apokalyptische Visionen der Vergangenheit.
 
Im Gegensatz zu diesem Großformat wirkt „Die Sicht“ introvertiert. Vor dem Hintergrund einer zerfallenden Fassade praktizieren drei Figuren diverse Verfahren der Ignoranz. Eine vergräbt sich in ein Bettlaken. Zwei andere experimentieren mit schimmernden Rettungsdecken, wie sie in Deutschland vorgeschriebener Bestandteil von Verbandkästen sind. Die Folien reflektieren UV- und Infrarotlicht – und vielleicht auch unbequeme Wahrheiten.
 
Geradezu spielerisch variiert der Künstler das Thema in seinem kleineren Format „Silence 18“. Vor einem dunklen Hintergrund wirkt der helle Leib der Dargestellten exponiert und wird von der goldenen Folie des Kopfputzes umspielt. Die Komposition verweist auf Franz von Stucks Gemälde „Sünde“. Inhaltlich tritt an die Stelle der von Stuck thematisierten erotischen Versuchung jedoch die Darstellung einer Metapher der sogenannten Filterblase. Geistige anstatt fleischlicher Verlockung: Niemand widerspricht, andere Meinungen muß man nicht mehr akzeptieren.
 
Die Werke von Nguyen Xuan Huy bauen Brücken aus dem 21. ins 19. Jahrhundert. Sie reagieren auf die visuellen Muster der Gegenwart und besitzen zugleich die Meisterschaft und thematische Dichte der klassischen europäischen Malerei. Nguyens Kunst greift aktuelle Sachverhalte auf und formuliert eindringliche Parabeln von außerordentlicher Tiefe, Komplexität und Virtuosität. In einer Zeit, der die Maßstäbe verlorengegangen sind, schafft er Bilder von Wirkung und Klarheit.



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