Thüringer Allgemeine, 28.03.2015

Erfurt. Es klingelt in der Galerie, dann poltert's. "Harald!" dröhnt es durch den Vorraum, es folgt zweifaches männliches Schulterklopfen - Auftritt Harald Reiner Gratz.

"Tach", sagt der, lässt sich auf den Stuhl fallen, nimmt ein Schoko-Hörnchen und dazu ein Stück Käse ("machen wir in Südthüringen so") - und die Atmosphäre am Frühstückstisch in Jörk Rothamels Büro strotzt mit einem Mal vor Energie.

Vor 38 Jahren sind sich Harald Reiner Gratz und Jörk Rothamel zum ersten Mal begegnet: auf dem Parkplatz, vor der Aufnahmeprüfung in den Förderzirkel Suhl. "Das war noch was", erinnern sie sich. "Wie da gesiebt wurde."

Sie kamen beide durch: Rothamel in Kunstgeschichte, Gratz in der Malerei. Er studierte an der Burg Giebichenstein, später an der Kunsthochschule in Dresden. Rothamel ging nach St. Petersburg, promovierte in Leipzig und eröffnete 1996 in einer alten Druckerei in Erfurt seine Galerie. Und machte mit Harald Reiner Gratz eine seiner ersten Ausstellungen - in einer "unorthodoxen Zeit", in der das Völkchen in Erfurt bunt, das Klima wild und kreativ war und die Partys legendär. Eine "Stimmung ohne Rückversicherung", erinnert sich Gratz und die Herren seufzen ein wenig.

Aber nur kurz, denn jetzt geht's um Märchen, die neue Ausstellung von Harald Reiner Gratz in der Galerie Rothamel, die heute eröffnet - und ganz und gar nicht nostalgisch ist. Und betulich schon gar nicht.

Vor vier Jahren hat Gratz begonnen, sich mit dem Thema zu beschäftigen, da hatte er seine Serie über den Schauspieler Thomas Thieme gerade abgeschlossen. Die Romantik, das Scheitern, das reizt ihn. Das "wahnsinnig tolle und dichte Kaleidoskop der menschlichen Existenz ", "das "sich "in "den ""fast tapsigen Formulierungen" der Gebrüder Grimm entfaltet - und doch so scharf und präzise ist.

So scharf wie die Nase der bösen Stiefmutter auf einem seiner Porträts, die nun bei Rothamel hängen. Für die habe er viel Sympathie, erzählt Gratz ("die ist einfach in einer Scheißsituation") - wie überhaupt für all die Figuren, in die so viel Negatives projiziert werde. "Ich bin instinktiv auf deren Seite". Er habe schon als Kind lieber bei den bösen Cowboys mitgespielt als bei den guten Indianern.

Oder die Hexe bei Hänsel und Gretel, die bei Gratz in einem Käfig eingesperrt ist, vor dem die Geschwister als jugendkriminelles Pärchen durch den Wald schlendern. "Warum soll die böse sein, nur weil die als ausgeflippter Althippie in einem Lebkuchenhaus vor der Stadt wohnt?" Und da womöglich ein einschlägiges Gewerbe betreibt.

Es sind Rätselbilder, in denen mit Fantasie und Poesie etwas zu entdecken ist - und die auch als Gleichnis funktionieren. Wie das nackte Schneewittchen, das da auf einem der Tableaus am Boden liegt - erledigt von Jonathan Meese: per Hitlergruß. Neben dem Provokationskünstler mit seiner "infantilen Dauergeste" (Gratz) reihen sich wie in einer Ahnengalerie sechs weitere Zwerge, pardon: zeitgenössische deutsche Künstler und blicken auf ihr Opfer: auf Schneewittchen alias Germania.

Joseph Beuys ist dabei und A."R. Penck, ein "sehr drakulöser" Georg Baselitz, ein gedie- gener Gerhard Richter und ein fratzenhafter Neo Rauch: alles Künstler, die sich an Deutschland abarbeiten, meint Gratz: ob Beuys als Achtundsechziger oder Gerhard Richter, der aus einem "Drang des deutschen Meyerschen "Lexikons heraus" "alles bediene. Gratz schätzt sie alle, aber ihr Gestus ist ihm zu ernsthaft, zu staatstragend.

Er sieht sich lieber als den Karl Valentin-haften Chasseur mit Pickelhaube, den er im Bild der bösen Stiefmutter zur Seite stellt. Getreu dem vergnügten Motto: "Es ist schon alles gesagt, aber noch nicht von jedem."

Gratz malt, was in seinem Kopf ist - und er traut nur dem, was "jahrelang durch ihn durchläuft", und nicht etwas, das er sich erst anlesen muss. "Die Bilder müssen hier drinnen sein", sagt er und tippt sich an die Stirn. "Und dann musst du dich um die Malerei kümmern."

Märchen und die Sagen des klassischen Altertums faszinierten ihn schon als Kind. So sehr, dass er Archäologe werden wollte. Bis man ihm an der Uni in Berlin sagte, was man dafür alles können muss. Und weil "Altassyrisch in Schnellbach nicht so verbreitet war", fiel die Wahl auf das, was er am zweitliebsten mochte: "alles vollkritzeln."

Gerade erarbeitet Gratz eine Ausstellung fürs Erfurter Angermuseum zum Reformationsjubiläum 2017, zusammen mit dem befreundeten Schauspieler Heino Ferch. "Eine scheißsperrige Thematik, aber ich versuche das mit halbwegs geiler Malerei irgendwie aufzubrechen."

Thüringer Allgemeine, 02.04.2012

In der Erfurter Galerie Rothamel entlässt der Künstler Harald Reiner Gratz "Die Familie" auf seine Malgründe.

Erfurt. Er will doch nur malen, Harald Reiner Gratz, der Wahl-Schmalkalder. Während er in Weimars Neuem Museum noch bis zum 15. April im Langzeitprojekt den "Spieler" Thomas Thieme bildnerisch beobachtet, lädt er seit dem Wochenende in der Erfurter Galerie Rothamel in seinen Mikrokosmos "Die Familie" ein.

Gratz, der Vollblutmaler, geboren 1962 in Schnellbach, Absolvent der Hallenser Burg Giebichenstein und Gastkünstler von der Villa Romana bis in die USA, entführt in Erfurt einmal mehr rasant in eine Bühnenwelt (erinnert sei hier an sein furioses Figurentheater "Penthesilea"). Dazu hat er die Leinwände in großen und kleinen Formaten zum Schauen mit Menschen, Tieren und Landschaften zu atmosphärischen Geschichten belebt.

Ein Rollenspiel wird unter seiner Regie aufgeführt, in dem ihm bekannte oder ersonnene Akteure ihre im spontanen Pinsel-Duktus bestimmten Plätze einnehmen. Wohl lautet das Oberthema Familie, doch legt Harald Reiner Gratz jenes in seinem Kopfkino so breit aus, dass ebenso expressiv Platz ist für Vater, Mutter, Schimpanse wie für Judith und den kopflosen Holofernes oder den Terroristen Carlos und eine der ihn schützenden Frauen.

"Ach", sagt der Maler mit einem bestimmten Lächeln, "ich stehe ganz auf Familie; sie ist für mich ein Labor für den Umgang mit der Welt, zwischen Geborgensein und Verletzung". Und manchmal wohl auch "Dschungel", wie ein zur Abstraktion neigendes Tableau heißt, das für ein Kommen und Vergehen alles Irdischen steht.

An dem Betrachter ist es, seine Erfahrungen einzubringen, wenn auf der "Bühne" ein Erhängter, ein Schneemann und eine nackte Femme fatale rätselhaft nachbarlich verbunden werden. Es macht Vergnügen, den vital vorgetragenen Assoziationen und Ansichten von Fremdem und Vertrautem nachzuspüren, in denen es bei allem Inhalt manchmal auch mehr um die Form, die Farbsetzung oder das Licht geht.

Schließlich werden im Kleinformat auch die weniger symbolträchtigen Orte eines stillen Lebens vorgestellt, die der Familie (gerade in der Karwoche) ein versöhnliches Umfeld mit Wohnung und Landschaft schaffen. Für das Blatt 3 der TA-Galerie bekannte Gratz schon 1997: "Mit geht es darum, Umbruchzeiten über Persönlichkeiten festzumachen." Daran hat sich nichts geändert. 

Etwa im Dreijahresrhythmus darf man mit einer neuen Malphase bei ihm rechnen; sein "total von Energie und Inspiration" bestimmtes so facettenreiches Bühnenspiel geht weiter...

 

Wolfgang Leissling / 02.04.12 / TA