Seite R 6 · Donnerstag, 4. Februar 2016 · Nr. 29
Reiseblatt · Frankfurter Allgemeine Zeitung
Gefunden, erfunden, empfunden: Hiroyuki Masuyama reiste in den Harz, die Alpen und die Sächsische Schweiz und nahm Tausende von Details auf, mit denen er die großartigen Landschaften Caspar David Friedrichs am Computer nahezu originalgetreu als Fotografien zusammensetzte. Von Freddy Langer
Caspar David Friedrich war nie in den Alpen. Aber er musste dort auch gar nicht hin. Er kannte Bilder. Das war ihm genug. Skizzen seines Schülers August Heinrich sowie Gemälde von Kollegen dienten ihm als Vorlage für seine beiden berühmten Bergdramen. Den Watzmann sah er bei Adrian Ludwig Richter, den Mont Blanc bei Carl Gustav Carus. Beides Maler von Rang und von der Kritik überaus wohlwollend bedacht. Das war bei Friedrich nicht immer der Fall. Gerade seine Alpenbilder wurden skeptisch betrachtet. Das „Hochgebirge“ blieb zunächst sogar unverkauft.
Friedrich hatte etwas entdeckt, wonach Künstler, Kunstmarkt und Sammler in den Jahren 1824 und 1825 noch nicht suchten. Die beschäftigten sich mit Aspekten des Naturalismus und stülpten Fragen der Geowissenschaften über die Malerei, Debatten über elementare Gesetzmäßigkeiten der vermeintlich chaotischen Bergwelt, über Neptunismus und Plutonismus und das Entstehen der Berge durch Erosion oder Explosion. Das ließ zwar die Möglichkeit offen, kleine Menschlein und windschiefe Hütten in die gemalten Naturräume zu setzen, womit der Fleiß der Bergbewohner ebenso beschrieben war wie die Nichtigkeit des Menschen angesichts der dramatischen Szenerie. Aber es verlangte eben auch nach exakter Darstellung, weshalb Carl Gustav Carus den mächtigen Eisstrom am Fuß des steil aufragenden Mont Blanc, diese gewaltige Gletscherzunge voller Spalten und Séracs, so detailliert abbildete, als arbeite er für ein Wissenschaftsmagazin.
Caspar David Friedrich hatte andere Ziele: Ihm war es um die Essenz der Bergnatur zu tun, ihre Wirkung auf den Betrachter. Da drängen sich Wortspiele mit den Begriffen „gefunden“, „erfunden“ und „empfunden“ förmlich auf. Beim „Watzmann“ wie beim „Hochgebirge“, verzichtet er auf jede Erinnerung an den Menschen. Keine Spur von Zivilisation. Aber auch keine Andeutung von Hoffnung, Trost oder Glück. Richter wollte die „deutsche Natur zu einem Ideal, zu edler Größe erheben“. Friedrich lehnte das ab und beschimpfte dessen Bild als überladen mit den „aneinander, hintereinander und übereinander“ angehäuften Gegenständen. Was er stattdessen zeigt, ist Stein. Materie pur! Seine Bilder sind Faustschläge der Natur ins Gesicht des Betrachters.
Hiroyuki Masuyama kommt aus Tokio. Dort hatte er Malerei studiert, bevor ihn ein Stipendium des Deutschen Akademischen Austauschdiensts vor zwanzig Jahren an den Rhein brachte, wo er noch heute lebt. Zunächst studierte er in Düsseldorf bei Magdalena Jetelová Bildhauerei, anschließend Fotografie und Film an der Kunsthochschule für Medien in Köln. Fehlt eigentlich nur noch die Poesie, um das weite Feld der Kunst flächendeckend zu beherrschen. Aber vielleicht ist das, was er schafft, ja eine neue Form von Lyrik: seine Verdichtungen von Raum und Zeit.
Er hat einen Film gedreht, für den er über die Dauer eines Jahres durch einen Düsseldorfer Park spaziert ist. Immer ging er nur ein paar Schritte, und jeden Tag fing er nur ein paar Bilder mit der Kamera ein. So folgt man ihm im fertigen Werk nicht allein durch die Kunstlandschaft des Parks, sondern durch eine Flora, die sich im Wechsel der Jahreszeiten verändert, die knospt, blüht, strahlt, vergeht und am Ende unter Schnee begraben ist. Dann folgte die Weltreise, genauer: Es waren zwei. Mit einem ausgetüftelten Flugplan und vorbestellten Fensterplätzen umrundete er nahezu ohne Pause von Frankfurt über Bangkok, Tokio, Honolulu, Los Angeles und New York den Globus, unternahm die Reise gleich nach Ankunft in Frankfurt noch einmal und fotografierte dabei alle zwanzig Sekunden zum Fenster hinaus. Dann fügte er die Aufnahmen zu einem Panorama der Erde im Wechsel der Tageszeiten zusammen. Es ist nur vierzig Zentimeter hoch, aber siebenundzwanzig Meter lang. Erst der Park, dann der Globus: Reisen, sagt Hiroyuki Masuyama, sei für seine Arbeit immer wichtiger geworden. Es ist seine Aneignung von Welt. Doch folgt er mittlerweile auch den Reisen prominenter Künstler, um zu bereifen, wie wiederum diese die Welt interpretierten. William Turner ist einer von ihnen. Mit dessen Skizzen im Gepäck unternahm er die Tour des Malers von London durch Deutschland und die Schweiz bis Rom und fotografierte von den Originalplätzen aus mehr als achtzig von Turners Skizzen und Aquarellen nach. Und er suchte Motive von Caspar David Friedrich.
Begonnen hat er in der Sächsischen Schweiz, und obwohl er natürlich wusste, dass Friedrich die Gemälde aus Versatzstücken seines Skizzenhefts montiert hatte, suchte er eine Woche lang in den Schluchten nach der Höhle mit dem Grab des Arminius, so wie Friedrich die zeigt. Vergebens. Dann begann er, Felswände, Steine, Farne und Moose zu fotografieren, wie sie auf dem Gemälde zu sehen sind. Am schwierigsten waren die Bäume, sagt er. Und natürlich das Licht. Aber mit dreihundertfünfzig Aufnahmen hatte er genügend Material, um das Bild am Computer nahezu originalgetreu nachzubilden. Anschließend fuhr er zum Watzmann, zum Mont Blanc und in den Harz, um zusammenzutragen, worauf Friedrich sich berief.
Seine Bilder sind grandios, atemraubend, ausgedruckt im riesigen Format und in Leuchtkästen gesetzt, weshalb das Licht noch blendender ist als bei Friedrich. In einer Ausstellung in Frankfurt erhalten sie fast etwas Sakrales, und gerade weil Friedrichs „Hochgebirge“ 1945 zerstört wurde, wird diese Arbeit nun so etwas wie ein moderner Ersatz, der mit den Mitteln der Computertechnik das Sublime gebiert. Zugleich ist den Bildern etwas Meditatives eigen; und es ist verführerisch, dahinter eine japanische Sicht auf die Welt zu vermuten. Doch womöglich offenbart sich die japanische Kultur viel mehr im Anspruch der exakten Kopie.
Wenn er wissen wolle, wie er aussehe, sagt Hiroyuki Masuyama, schaue er in den Spiegel. Wenn er wissen wolle, wie es in ihm aussehe, blicke er auf die Kunst. Sie sei ihm ein Spiegel der Seele. Mehr verrät er nicht. Nun lädt er den Betrachter seiner Bilder ein zu einer Reise in das eigene Selbst.
Hiroyuki Masuyama – Fotografien, Galerie Rothamel, Fahrgasse 17, 60311 Frankfurt; bis 27. Februar.
Bildunterschriften:
(1) Als Gemälde zerstört – als Fotografie wiederauferstanden: das „Hochgebirge“ des Mont Blanc, am Computer zusammengesetzt aus Hunderten von Einzelbildern.
(2) Gefunden? Felsental mit dem Grab des Arminius
(3) Sublim: Watzmann mit Felsen aus dem Harz
Keine Gipfelleistung
Caspar David Friedrichs „Wanderer über dem Nebelmeer“ wird überschätzt
Am 5. September 1774 wurde Caspar David Friedrich in Greifswald geboren. Der 250. Geburtstag des Dresdner Künstlers, der wie kein anderer Maler die Romantik zum Ausdruck brachte, gibt Anlass zu einer Neubewertung. Noch mehr im Rampenlicht, als das ohnehin der Fall ist, steht Friedrichs Gemälde „Der Wanderer über dem Nebelmeer“. Unser Autor Jörg Restorff kann sich mit dem Kultbild nicht anfreunden.
Von Caspar David Friedrich, den in diesem Jahr Ausstellungen in Berlin, Dresden, Greifswald, Hamburg und Weimar feiern, gibt es eine Reihe wundervoller Bilder, in denen uns die Figuren den Rücken zuwenden. Es scheint so, dass die Natur vor ihnen ihre und unsere volle Aufmerksamkeit fordere. Spontan kommen einem die „Kreidefelsen auf Rügen“ (1818) in den Sinn. Weitere Musterbeispiele für diesen kontemplativen Bildtypus im Schaffen des Dresdner Romantikers (1774–1840) sind „Frau vor untergehender Sonne“ (um 1818) oder „Mann und Frau in Betrachtung des Mondes“ (um 1824).
Keines dieser Gemälde indes reicht im Entferntesten an jene Popularität heran, die „Der Wanderer über dem Nebelmeer“ genießt – seit 1970 befindet sich das Bild in der Hamburger Kunsthalle. Deren früherer Direktor Hubertus Gaßner sagt, der Wanderer sei für die Kunsthalle, was die „Mona Lisa“ für den Louvre ist. Kürzlich widmete die „Zeit“ dem Kultstatus des Bildes sogar einen eigenen Artikel. Darin spricht Oskar Piegsa von einem „Werk voller faszinierender Rätsel“. Nachvollziehbar, wenn man sich vor Augen hält, wie wenig wir tatsächlich über das Bild wissen (dazu später mehr). Doch wie steht es mit der Faszination, die das Werk selbst auslöst? Oder auch nicht. Daran scheiden sich die Geister.
Längst nicht alle schwärmen vor und von dem Bild. Der Kunsthistoriker Jens Christian Jensen meint in seinem Buch über Leben und Werk des Malers (DuMont, Köln, 1974) gar, das Gemälde müsse „als künstlerisch misslungen angesehen werden. … Die realistisch aufgefasste große Figur steht in merkwürdigem Missverständnis zur unermesslichen Natur.“ Weniger dezidiert, doch im Tenor vergleichbar das Urteil von Werner Busch in seiner 2021 erschienenen kompakten Darstellung zum Schaffen des Romantikers (C.H.Beck): „Ich muss gestehen, ich mag das Bild nicht sehr, zu laut tönend, zu wenig zurückhaltend und Friedrichs Charakter widersprechend erscheint es mir.“ Das Pathos, so Busch, lasse sich allenfalls erklären, „wenn wir den ‚Wanderer‘ als ein Auftragsbild betrachten und die Rückenfigur, die sich vor der vielfältigen Bergkulisse denkmalartig aufbaut, als die eines Verstorbenen vor Gottes Thron“.
Fatale Feldherrenpose
Mir geht es ähnlich wie Jensen und Busch. Ich fühle mich unbehaglich beim Blick auf den Mann, der sich auf erhobener Warte in Feldherrenpose aufgebaut hat. Spielen Figuren in den meisten Werken Friedrichs eher eine untergeordnete Rolle, so verhält es sich hier genau umgekehrt: Alles ist zugeschnitten auf den Hauptdarsteller, der die felsengeformte Herrscherbühne erklommen hat, als wolle er sich die Bergwelt untertan machen. Eben dieser forcierte Wille zur Erhabenheit sprach die Nationalsozialisten an – bekanntlich vereinnahmten sie den Künstler, den Napoleons Triumphzug zu Beginn des 19. Jahrhundert ins Lager der nationalen Befreiungsbewegung trieb, als Botschafter des „Nordischen“ und „Nationalen“.
Zugegeben: Überspitztes Pathos, penetranten Patriotismus, auch Franzosenhass, all das kann man durchaus finden, wenn man das Œuvre des Eigenbrötlers durchmustert. Charakteristisch, gar wesentlich für seine Kunst aber ist es nicht. Bilder wie „Mönch am Meer“, „Abtei im Eichwald“, „Kreidefelsen auf Rügen“, „Das Große Gehege bei Dresden“, „Lebensstufen“ oder „Der einsame Baum“, sie sprechen eine andere Sprache.
Hier wird nicht proklamiert, hier bekundet sich eine stille Zwiesprache mit der Natur. Nichts Einschüchterndes haben diese symbolträchtigen, stimmungsvollen, oft melancholisch anmutenden Landschaftsdarstellungen. In vielen seiner Werke hinterließ der fromme Künstler ein gemaltes Glaubensbekenntnis. Gott entdeckte er überall in der Natur – vom kleinsten Sandkorn bis zur mächtigen Eiche.
Dagegen ist der „Wanderer über dem Nebelmeer“ ein Titan, der sich mit der lutherischen Kreuzestheologie, mit der Friedrich sympathisierte, nicht in Einklang bringen lässt. Von der Kommandobrücke der Bergwelt macht er sich die Natur untertan und versperrt den Panoramablick. Dienen die Rückenfiguren in Friedrichs Kunst meist als Mittler zwischen Betrachter und Landschaft, als Identifikationsangebot, das uns gleichsam ins Bild hineinzieht, so ist der Wanderer ein Solitär, einer, der uns allenfalls gestattet, ihn aus der Ferne respektvoll zu betrachten.
Ins kunsthistorische Korsett gezwängt
Immer verdächtig, wenn ein Bild vor allem als Demonstrationsobjekt kunsthistorischen Detektivfleißes dient, wenn die Mittel des Malers zum Zweck gemacht werden. Beim „Wanderer über dem Nebelmeer“ scheint mir das in hohem Maße der Fall. Weil Friedrichs Kompositionen oft auf geometrischen Konstruktionsprinzipien beruhen, weshalb er Lineal, Winkel und Reißschiene nicht verpönte, zwängen Schema-F-Freunde die Zentralfigur (sie steht in der Tat exakt auf der senkrechten Mittelachse) ins Korsett des Goldenen Schnittes. Stolz wird mitgeteilt, dass die Spitze seines linken Fußes und die Stockspitze mit den Vertikalen dieses Proportionssystems übereinstimmen. Aufregender noch: Die obere Waagerechte dieses Systems unterteilt Kopf und Kragen. Doch was ist mit solchen Erkenntnissen gewonnen? Kommen wir der Kunst dadurch näher? Wohl kaum.
Die einzelnen Felsformationen des Bildes hat man auf reale Vorbilder in der Sächsischen Schweiz und den Böhmischen Bergen zurückgeführt. Dort war der Künstler, in jungen Jahren ein eifriger Wanderer, wiederholt mit dem Zeichenblock unterwegs. Doch betrachtete er diese Impressionen bloß als Vorübungen zu den Gemälden. Hier, an der Staffelei schuf er auf der Basis seiner wirklichkeitsgetreuen Studien eine neue Realität. Seine Darstellungen scheinen eine höhere Evidenz zu haben als die realen Schauplätze. Darin besteht eben das Geniale von Caspar David Friedrichs Kunst. Es erschließt sich ohne geologisches Vorwissen.
Das große Rätselraten
Ob uns der Künstler mit seiner Berglandschaft eine symbolische Botschaft hinterlassen wollte? Aber welche? Das ist ebenso Gegenstand kunsthistorischen Rätselratens wie die Identität, die man dem Wanderer attestieren – man kann auch sagen: unterschieben – wollte. Goethe, den der Maler bewunderte, wurde in ihm vermutet, aber auch ein Gefallener der Befreiungskriege, dem Friedrich auf diese Weise ein Epitaph auf Leinwand habe widmen wollen, so eine These. Doch führen solche Spekulationen zu nichts, lenken sogar ab von dem, was uns das Bild zu sagen hat. Frei nach Wittgenstein: Was man nicht sehen kann, darüber soll man schweigen.
Je intensiver man sich auf diese Ikone der Romantik einlässt, um so deutlicher treten die Wissenslücken hervor. Weder kennen wir das Entstehungsdatum des Bildes (datiert wird es um 1817), noch können wir mit letzter Sicherheit sagen, ob es wirklich von Caspar David Friedrich stammt – Signaturen und Datierungen sucht man in der Regel vergeblich auf seinen Werken. Auch Ute Haug, die sich als Leiterin der Provenienzforschung an der Hamburger Kunsthalle intensiv mit dem Bild beschäftigt hat, vermag keinen hieb- und stichfesten Beweis für Friedrichs Urheberschaft beizubringen.
Ziemlich verschlungen zudem die Provenienz des Gemäldes, das durch verschiedene Galerien und Kunsthäuser wanderte, bis es 1970 für die Hamburger Kunsthalle erworben wurde. Für 600 000 Mark: nach heutigen Maßstäben ein Schnäppchenpreis. Gleichwohl wäre der Ankaufswunsch des damaligen Direktors Werner Hofmann wohl gescheitert, hätte sich nicht der Industrielle Kurt A. Körber an der Finanzierung beteiligt. Eigenartig bei alledem, dass das Werk erst 1938 aktenkundig wurde – damals tauchte es beim Berliner Kunsthändler Wilhelm August Luz auf. „Von der Entstehung des Bildes bis zum Jahr 1938 ist eine große Informationslücke“, bedauert Haug.
Liebling auf Instagram
Wer fühlte sich angesichts einer solchen Häufung von Imponderabilien nicht an das „Literarische Quartett“ erinnert? „Vorhang zu und alle Fragen offen“: Das Motto passt auch auf den „Wanderer über dem Nebelmeer“. Was der ungemeinen Beliebtheit des Gemäldes keinen Abbruch tut. Mit Briefmarken ist das Motiv ebenso kompatibel wie mit „Spiegel“-Covern. Als Bildzitat oder Paraphrase kommt Friedrichs Gipfelstürmer am laufenden Band zum Einsatz: bei Werbekampagnen, auf Plakaten, Bucheinbänden, Plattencovern und Computerspielen. Auch die aktuelle Hamburger Schau „Kunst für eine neue Zeit“, die mehr als 60 Gemälde und rund 100 Zeichnungen des Meisters vereint, setzt wieder voll auf die Werbewirksamkeit des Wanderers. „Extreme Instagramability“ bescheinigt ihm Kunsthallen-Direktor Alexander Klar. Keine Überraschung deswegen, dass uns der abweisende Hagestolz als Logo des Instagram-Accounts @hamburger.kunsthalle begegnet.
Frei nach dem Motto „Ein markanter Rücken kann auch entzücken“ hat der australische Fassadenkünstler Fintan Magee anlässlich des 250. Geburtstags von Friedrich unlängst im Hamburger Portugiesenviertel ein rund 200 Quadratmeter großes Wandbild geschaffen, das den Bergsteiger auf den Boden der Urban Art holt. Passend zum Hype widmet das Jubiläumsportal „250 Jahre Caspar David Friedrich“ dem Wanderer eine ausführliche digitale Story. „Da musst du hin – für das perfekte Foto!“, so lautet der erste Satz dieser liebevoll gestalteten „Wanderlust“-Strecke, die sich wohl in erster Linie an ein jüngeres Publikum wendet. Flankiert wird sie von Instagram-Fotos, auf denen CDF-Fans den Wanderer im Stil „lebender Bilder“ nachahmen.
Gibt es denn gar nichts Kritisches über das Gemälde zu berichten? Doch, doch, die Digitalstory verweist auf einen vermeintlich wunden Punkt: „Das Bild kann nicht-weiße, nicht-männliche Identitäten und alle diejenigen ausschließen, die nicht so einfach auf einen Berg steigen können.“
Gewiss lässt sich an dem Gemälde manches kritisieren – in diesem Text sind einige Schwachpunkte benannt. Caspar David Friedrichs Werk mit einer an den Haaren herbeigezogenen Triggerwarnung zu versehen, das allerdings hat der Künstler nicht verdient. Das Wesen der Kunst besteht ja eben darin, dass sie Schranken überwindet, dass sie zu jedem spricht, der willens ist, ihr zuzuhören. Um sich an Caspar David Friedrichs „Wanderer über dem Nebelmeer“ zu erfreuen, sich meinetwegen auch daran zu reiben, dazu muss man weder ein Mann sein noch eine weiße Hautfarbe haben. Und schon gar nicht bedarf es hierfür besonderer Bergsteiger-Qualitäten.
Jörg Restorff
Eine Gipfelleistung
Hiroyuki Masuyama bringt den Wanderer in die LED-Box. Aber was springt heraus?
Wie kann es gelingen, ein Gemälde 204 Jahre nach dessen Erst-Entstehung, wieder erstehen zu lassen? Gleiches Motiv, gleiches Format, gleicher Titel. Gleich und doch ungleich. Wenn wir aus Vergleichen lernen, dann hier. Bei aller frappierenden Ähnlichkeit, verblüffenden Augentäuscherei – auf die Unterschiede kommt es an.
Hiroyuki Masuyama, am 28. Juli 1968 in Tsukuba, Japan geboren, kam 1995 mit einem DAAD Stipendium erstmals nach Düsseldorf. 2022 schloss er seine über Jahre verfolgte Werkreihe zu Caspar David Friedrich mit “Der Wanderer über dem Nebelmeer 1818, nach Caspar David Friedrich“ ab. C.D.F. als LED Lightbox. Das ist für den romantischen Geschmack nun echt eine Herausforderung.
Stand am Anfang eine fernöstliche Sehnsucht, der Versuch, im Werk eines Anderen spurlos aufzugehen? Oder trieb Hiroyuki Masuyama die Concept-Art konsequent auf die Spitze, indem er sich als Künstler anonymisierte und als Künstlerpersönlichkeit unkenntlich machte?
Wer wie er die schier grenzenlosen Möglichkeiten technischer Bilderstellung auslotet und mittels seines konzeptuellen Ansatzes zu immer neuen, überraschenden Ergebnissen führt, agiert schon immer hart am Rande der Idee von der künstlerischen Autonomie und der damit verbundenen romantischen Vorstellung des frei schaffenden Genies. Da die Fotografie bekanntlich kein Original kennt, fiel es den Fotografen immer schon schwer, einem Glauben an das geniale Künstler-Individuum nachzuhängen. Um wie viel mehr erst in Zeiten digitaler Bildbearbeitung und moderner Reproduktionstechniken?
Und was, fragt sich Masuyama, wenn ich als Künstler vollends verschwände, alles wegließe, was doch zu einem echten Künstler gehörte? Keine eigene künstlerische Handschrift, keine wiedererkennbare Bildsprache, keine typische Motivwahl, kein eigens entwickeltes Medium: Kein Original, nichts, was an den Urheber Masuyama erinnert?
In Caspar David Friedrich fand er, kein Zufall, jenen Künstler aus Deutschland, dessen Werke nicht nur allseits verfügbar sind und ikonengleich verehrt werden, sondern auch den Meister, der wie kein Zweiter, als der Künstler der deutschen Romantik gilt, als Malergenie schlechthin. Seine naturalistischen Symbollandschaften stehen für die Kunst jenes Land, in dem ein Künstler seither Genie zu besitzen hat und ausgerechnet hier lebt der Japaner Masuyama seit über zwanzig Jahren.
Im Laufe seiner zahlreichen Flugreisen – zumal von Düsseldorf, seinem Arbeits- und Wohnort bis heute, in seine japanische Heimat – fragte sich der an der Kunstakademie Düsseldorf und der KHM Köln ausgebildete Künstler, wie die ihm inzwischen wohlvertraute deutsche Landschaft ursprünglich ausgesehen habe, bevor die Fotografie erfunden worden war. Für den fotografisch arbeitenden Künstler erschien dies als die entscheidende Zäsur auf dem Weg in die Moderne. Tatsächlich wird man die Landschaften Europas um die Mitte des 19. Jahrhunderts als überwiegend „natürlich” bezeichnen. So stieß Masuyama über die Gemälde Caspar David Friedrichs auf typisch deutsche Landschaften. Auch das eine Täuschung.
Er wollte die Probe aufs Exempel machen und brach zu seiner eigenen Deutschlandreise auf: Zu den von Friedrich in den Bildtiteln meist benannten Orten, Gebirgszügen, Gipfeln und Küstenabschnitten. Er holte Erkundungen beim örtlichen Fremdenverkehrsbüro ein und beschaffte sich einschlägige Touristenführer. An Ort und Stelle angekommen, musste er zu seiner Verwunderung gewahr werden, dass es jene landschaftlichen sites, wie echt und naturalistisch sie auf den Bildern Friedrichs auch widergegeben sind, nicht mehr gab – und auch nie gegeben hatte. Friedrichs Anliegen war es bekanntlich nicht, detailgetreue Portraits einer Landschaft zu malen, sondern vielmehr landschaftliche Fiktionen mit besonderem Sendungspotential. Die Symbollandschaften wurden unter Verwendung eingehender Naturstudien und Zeichnungsskizzen im Atelier konstruiert. Masuyama nahm pro site 300 bis 400 Fotografien auf, um sie in seinem Atelier mittels digitaler Fototechnik zu bearbeiten, montierte so lange, bis jenes Bild entstand, das der Vorlage täuschend ähnlich wurde. Er übernahm alle Vorgaben – Sujet, Bildaufbau, Licht- und Farbwirkung, auch das Bildformat – um ausschließlich mittels hunderter aktueller Fotografien eine digitale Fotovorlage zu erstellen, die Friedrichs Vorlage bis in alle Einzelheiten hinein gleichen sollte. Doch wie verblüffend auch immer diese Fotografie der über zweihundert Jahre alten Friedrich´schen Malerei ähnelt – es sind die Unterschiede, die bestechen und beunruhigen.
Wie sollte es anders sein. Wenn man Friedrichs Gemälde vermehrt aus seiner persönlichen Biographie heraus verstehen lernt, aus seiner besonderen Weltsicht und seiner politischen Haltung zudem, warum sollte man Masuyama das weniger zugestehen?
Von der deutschen Romantik zur Digitalen Revolution ist es kein Katzensprung. Der Düsseldorfer Japaner Masuyama leistet mit seinen LED-Leuchtkästen einen fernöstlichen Brückenschlag nicht nur über zwei Jahrhunderte, sondern über zwei alte Kulturen hinweg. Digitale Medien und Verfahren sind hier die Grundbedingungen der Bilderstellung, digitaler Technik (LED-Leuchtmittel) ist das Erscheinungsbild (Leuchtkasten) zu verdanken. Masuyama der offensichtlich keinen Schimmer vom Wesen der Romantik hat (und sich darum auch keinen Deut schert), nimmt den Wanderer auch nur als Vorwand, ein eigenes Werk entstehen zu lassen. Und das ist wirklich verblüffend: Masuyamas Wanderer leuchtet von innen. Der Nebel ist japanischer, die Berge Allerweltsberge und selbst der Wanderer wirkt schlanker, aufrechter. Mit seinem frisch ausrasierten Nacken und seiner modischen Frisur wirkt er weniger gedankenschwer, weniger nachdenklich, weniger statuarisch. Er wirkt agiler, eher vom Naturschauspiel erfrischt als ergriffen und zu neuen Taten ermutigt als Friedrichs ins Grausen versunkene Gestalt. Ein entromantisierter Wanderer, ein leichtfüßig Staunender.
Masuyama unternimmt mit seinem digitalen Werkzeug (Fotokamera, Rechner und Photoshop) eine Art Zeit- und Kunstreise zum Planeten Caspar David Friedrich und später in die Bildgalaxis William Turners. Indem er sie auswaidet und sich in seinem Selbstverständnis als Künstler in Frage stellt, konnte ein neuer, an die Fragen unserer Gegenwart rührender Werkblock entstehen. Sowohl bei den frühen Familienbilder, Private Room (seit 1995) den Park-Panoramen (2000) den Wiesenstücken (2001) wie den Flugbildern (Tokyo – London) aus dem Jahr 2001 handelt es sich um konzeptionelle Leuchtkasten-Bilder. Jede Foto-Arbeit, aus mehreren hundert Fotografien Masuyamas am Bildschirm montiert, übernimmt Friedrichs Kompositmethode, seine Bausteine sind statt Bleistiftskizzen digitale Fotografien. Sie beschreiben eine horizontale Zeitreise, wie Friedrich als erster eine horizontale Gleichrangigkeit vom einfachsten, geringsten Gegenstand bis zu den tiefsten Grundfeten der Erkenntnis auf einem Gemälden organisiert. Diese Werkserien hat Masuyama abgeschlossen. KI können das alles schon viel besser, weiß er.
Masuyamas Mimikry nahm einen überraschenden Verlauf. Seine Adaption von Friedrichs Das Eismeer wurde schon 2007 in der Hamburger Kunsthalle ausgestellt und zwar so, dass der Betrachter beide Werke gleichzeitig in den Blick bekommen konnte: Friedrichs Gemälde aus den Jahren 1823/24 und Masuyamas Leuchtkastenbild aus dem Jahr 2006. Anders heute. Sein “Wanderer über dem Nebelmeer“ aus dem Jahr 2022 hängt neben drei weiteren seiner Friedrich-Adaptionen eine Etage über der aktuellen Jubiläumsausstellung CASPAR DAVID FRIEDRICH. Kunst für eine neue Zeit.
Die gesuchte Ähnlichkeit, die Verstellung und Mimikry war bei aller Mühe, keineswegs vergeblich. Ein naturalistisches Gemälde des frühen 19. Jahrhunderts 204 Jahre nach der Entstehung der Vorlage mittels digitaler Bildtechniken des 21. Jahrhunderts täuschend echt nachahmen zu wollen, ist als künstlerisches Konzept zu sehen (und zu verstehen). Konnte sich Friedrich seiner Rolle als Künstler noch gewiss sein, hat Masuyama diese Gewissheit verlassen. Die Frage nach der Rolle des Kunstwerks wie des Künstlers beantwortet er heute ganz anders. Statt Genie Gemeinschaft. Mit „Dörfler“ hat er ein Projekt aufgelegt, bei dem Hiroyuki Masuyama nur als Anreger auftreten will. Dörfler 2 erwuchs im letzten Sommer aus „Zusammenhalt, Gemeinschaft, Hilfsbereitschaft, Empathie, Interesse, Aufmerksamkeit, Freude.“ Eine Art Anti-Ego Versuchsanstalt für avancierte Künstler. Kunst ist, was am meisten fehlt.
Als Grundtugenden wurde lediglich eingefordert: „Nicht lügen. Nicht schlecht über andere Dörfler reden. Andere nicht ärgern.“ Das Material für die Häuser, die das Dorf bilden, wurde kostenfrei zur Verfügung gestellt. Alle bekamen die gleiche Grundausstattung. Gekocht und gegessen wurde gemeinsam. Das Dorf sind acht Wochen, sind 33 Künstler, die in einer alten Speicherhalle im Rheinhafen Reisholz ihre Utopie probten. Dort sind Orte entstanden wie das „Gedankengebäude“, ein Blumenladen, eine Dorfsauna, ein Kolumbarium, eine Rikschahängemattentransporthaltestelle oder ein Souvenirshop. Freundliche Neugier trifft auf Fürsorge. Ein afghanischer Frauenchor trifft auf eine japanische Teezeremonie. „Jede Aktion macht die Herzen weit für Neues“, freut sich Hiroyuki Masuyama. Nahezu alle künstlerischen Beiträge definieren sich über Gemeinschaft und Teilhabe. Eine ungewöhnliche Übung. Denn alle beteiligten Künstler sind es gewohnt, sich außerhalb der Dörfler-Gemeinschaft im rauen Alltag behaupten müssen.
Reisen zwischen Raum und Zeit
Die Kunst von Hiroyuki Masuyama
Raum und Zeit stehen im Fokus der Kunst von Hiroyuki Masuyama. Er verdichtet diese komplexen Konstrukte in methodischer Kleinarbeit zu sinnlichen Kompositionen, die mit der Wahrnehmung des Betrachters spielen: Die Welt kann in einem Wimpernschlag umrundet werden / auf einer Wiese blühen Frühlings-, Sommer- und Herbstblumen neben schneebedecktem Gras / die Werke bekannter Vertreter der Kunstgeschichte formieren sich neu in der temporalen Wirklichkeit ihrer Orte. Als gute Methode, um dies zu realisieren, nennt der Künstler das Reisen... ganz im Sinne der Bedeutungsvielfalt des Wortes.
1968 in Tsukuba in Japan geboren, studierte Masuyama 1987 bis 1993 Malerei und Wandmalerei an der Hochschule für Bildende Künste und Musik in Tokyo. Als DAAD-Stipendiat kam er 1995 an die Kunstakademie in Düsseldorf und wechselte 1999 für ein Studium der Medienkunst an die Kunsthochschule für Medien in Köln. So bediente sich Masuyama für seine frühen Kompositionen sowohl der Fotografie als auch der Videokunst. In den Serien „family portrait“ und „park“ klingen Gestaltungsvarianten an, die später charakteristisch für den japanischen Künstler werden sollen. Hier wird die Familie des Künstlers zum Gegenstand mannigfaltiger Zeit- und Raumeindrücke, dort spaziert der Betrachter in einem Park, der sich Schritt für Schritt im Wandel der Jahreszeiten verändert. Der Künstler fotografierte über den Zeitraum eines Jahres eine Anlage in Düsseldorf und fügte die zahlreichen Aufnahmen zu einem Video zusammen. Zentral und zugleich irritierend ist das Nebeneinander verschiedener Zeiten, die an einem Ort kulminieren.
Die Erforschung der Simultanität ließ den Künstler 2002 zu seiner ersten großen Reise aufbrechen: Für die Serie „Flight“ bestieg er ein Flugzeug, flog um die Erde und machte alle 20 Sekunden ein Foto. Als Resultat entstand eine Panoramaansicht der Welt auf über 27 Metern Länge. Hunderte verschiedener Orte werden für den Betrachter zeitgleich wahrnehmbar. Die Kunsthalle Emden zeigte die Werke, die sich in LED-Leuchtkästen präsentieren, 2013 in einer eigenen Halle als Rundgang um die Welt in der Welt. Im Abschreiten des Raumes vollzieht der Künstler anhand der illuminierten Fotografien die Erdumrundung auf seine ganz persönliche Art und Weise nach.
Aus der Luft nahm Masuyama auch sein nächstes Sujet ins Visier: Berge. Er setzte Fragmente einer Vielzahl an Aufnahmen zu neuen Gebirgsformationen zusammen. Und ließ so eine neue Art konstruierter Gleichzeitigkeit in seinen Leuchtkästen wahr werden. Zudem erforschte Masuyama auf diese Weise die Möglichkeiten digitaler Fotografie in der Spannung von Kunst und Wirklichkeit, eindrucksvoll zu beobachten im Werk „Matterhorn“, das 2006 „In den Alpen“ zu sehen war, einer Ausstellung des Kunsthauses Zürich.
Das anfängliche Interesse am Wechsel der Jahreszeiten führte Masuyama neben seiner Kunst des Reisens zu einer Blumenwiese. Für die Serie „flowers“ lichtete er diese über mehrere Jahre ab und setzte Fragmente der Aufnahmen zu zeitumfassenden Kompositionen zusammen. Die Kunsthalle Gießen zeigte 2011 das monumentalste Werk dieser Serie. Hier tummeln sich Wärme und Kälte liebende Gewächse im Angesicht von Frost und Sonnenschein. Das gleiche Konzept liegt einer weiteren Werkfolge zugrunde, „Sakura and Magnoria“, hier allerdings mit Bäumen als zentralem Objekt verdichteter Zeitlichkeit.
Um seinen künstlerischen Spielraum zu erweitern, ging der Künstler in der Folge einen Schritt weiter: Die Verdichtung von Raum und Zeit erlangt in der Beschäftigung mit Werken der Kunstgeschichte eine kulturelle und auch malerische Komponente. Masuyama, der Reisende des 21. Jahrhunderts, folgte den Wegen der romantischen Reisenden Caspar David Friedrich und Joseph Mallord William Turner. Zugleich suchte er nach Plätzen von ähnlicher Ausdruckskraft. Durch die nunmehr gefestigte Vorgehensweise der Zusammenfügung von Fragmenten der entstandenen Fotografien bildete er die Gemälde der Meister nach, formte in malerischer Wirkung Orte, die intertemporär sind. „Faszinierend an Masuyamas Schaffen ist für mich die Verbindung seiner traditionellen Motivauswahl und Vorgehensweise mit der modernen Technik.“, schreibt Katharina Seyn-Wittgenstein über das Werk „Das Eismeer 1823-24“ aus dem Jahr 2007 in der Sammlung der Hamburger Kunsthalle im Kunstmagazin „art“. Reisen als Methode des Entdeckers verbindet die Romantiker mit dem Zeitgenossen ebenso wie die Arbeitsweise: Fragmente der Realität werden im künstlerischen Prozess zur eigenen Version der Wirklichkeit zusammengestellt: Masuyama nutzt Fotografien, Friedrich und Turner arbeiteten nach Skizzen. Zu der Ausdruckskraft der malerischen Fotokunst tragen besonders auch die LED-Leuchtkästen bei, in denen die Werke präsentiert werden. Das für die romantische Malerei so wichtige Licht lässt die neuartigen Kompositionen zusätzlich im Glanz des 21. Jahrhunderts erstrahlen. Schön ist dies bei der Betrachtung der Arbeit „Greifswalder Hafen 1820“ in der Sammlung des Städelmuseums zu erleben.
Eine interessante Spielart seiner konstruierenden Methode entwickelte Masuyama 2012 bei einem Besuch der italienischen Stadt Cava de’ Tirreni. In den Werken der entstandenen Serie zeigt ein Digitaldruck mehrere sich überlagernde Aufnahmen der alten Künstlerstadt. Die Idee des „tempus fugit“, die im Oeuvre des Japaners anklingt, veranlasste den Künstler 2011 dazu, sich in die Welt der Stillleben zu begeben. Auf die ihm nunmehr charakteristische Art und Weise ließ er zunächst die Blumenmalereien altniederländischer Meister wie Jan Seghers neu erblühen, bevor er sich Werken von Albrecht Dürer und Leonardo Da Vinci zuwandte.
Nach der Bearbeitung von Orten auf der ganzen Welt, der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft wagte sich Masuyama bereits 2009 in ein neues Abenteuer: Die Annäherung an das Außerirdische wurde zunächst auf recht bodenständige und minutiöse Weise zelebriert: Der Künstler fertigte eine Kugel aus Kirschholz, gespickt mit Löchern, die beim Betreten des Gebildes zu Sternenudn Sternbildern werden, die in monatelanger Arbeit exakt von Sternkarten übertragen wurden. In der Ausstellung „Himmelwärts“ zeigt das Museum Sinclair-Haus aktuell weitere Arbeiten mit diesem Kontext: Ein Gebilde aus Fiberglas und Holz zeigt die Milchstraße, ein gigantischer Leuchtkasten umfasst eine Sonne, die sich in Resin und Acrylfarben entflammt.
In: Süddeutsche Zeitung, 22. April 2015
Der japanische Fotograf, Videokünstler und Bildhauer Hiroyuki Masuyama zeigt seine Arbeiten im Ismaninger Kallmann-Museum
Von Sabine Reithmaier
Gleichzeitigkeit fasziniert Hiroyuki Masuyama. Mit Hingabe schichtet er Zeitebenen aufeinander, vereint 18., 19. und 21. Jahrhundert in einer ganz eigenen, schwer zu fassenden Simultanität. Die LED-Leuchtkästen des japanischen Fotografen und Videokünstlers im Ismaninger Kallmann-Museum zeugen eindrucksvoll von seinen Reisen durch Raum und Zeit.
Der Künstler, 1968 in Tsukuba geboren und seit 1995 in Düsseldorf lebend, wandelte auf den Spuren Caspar David Friedrichs oder William Turners und suchte die Orte auf, die die beiden in Landschaftsbildern oder Stadtansichten festgehalten haben. Masuyama fotografierte die Originalschauplätze aus unterschiedlichsten Perspektiven und setzte am Computer aus Hunderten Fotos die Gemälde wieder zusammen. Es ist erstaunlich, welche Mühe er verwendet, Turners nahezu abstrakte Farbkompositionen mit den Mitteln der Fotografie nachzubilden. Freilich, auch Turners Bilder entstanden im Atelier, der britische Maler komponierte seine Arbeiten nach Skizzen und hatte keinerlei Problem damit, aus dramaturgischen Gründen eine Landschaft zu verändern. Er malte aus der Erinnerung, schließlich verstand er sich nicht als Dokumentarist - ebenso wenig wie sein deutscher Romantiker-Kollege Caspar David Friedrich. So gesehen ist es kein Widerspruch, dass Masuyama bis zu 400 digitale Bildschnipsel zu einer neuen Landschaft verschmilzt, die zwar einerseits der Vorlage unheimlich ähnelt, andrerseits aber eindeutig aus der Jetztzeit stammt und Selbsterlebtes mit einbezieht.
Die Zeitgenossenschaft ist oft erst auf den zweiten Blick zu entdecken. So gleicht der Blick auf die Rialtobrücke in Venedig zwar Turners 1840 entstandenem Bild. Doch die ungezählten Touristen, die sich schemenhaft auf der Brücke drängen, stammen aus dem 21. Jahrhundert. Die Reihung der 70 Bilder suggeriert zudem, Turner hätte eine zusammenhängende Reise unternommen, die von London über Köln, Heidelberg, Luzern nach Venedig und Rom führte, was nicht stimmt - Turners Bilder entstanden zu verschiedenen Zeiten. Aber die Hängung verdeutlicht ein anderes wichtiges Thema Masuyamas: das Reisen.
Auch Caspar David Friedrichs Werk erschließt sich der Fotograf auf eine ähnliche Weise. Was dessen "Greifswalder Hafen" von 1820 betrifft, so dümpeln zwar originalgetreue Segelschiffe am Kai. Aber am Ufer liegt neumodisches Schwemmgut, alte Autoreifen etwa und anderer Zivilisationsmüll. Die Übergänge zwischen den Jahrhunderten sind fließend, aber unübersehbar. Genauso nutzt Masuyama auch die Radierungen Giovanni Battista Piranesis, die er abfotografierte und wieder mit eigenen Aufnahmen ergänzte. Auch hier blendet er das aktuelle Straßenleben ein, weshalb sich zwischen die Menschen vor dem Forum Romanum im 18. Jahrhundert Autos schieben.
Unbedingt empfehlenswert ist es übrigens, in die einzige Skulptur der Ausstellung durch eine Einstiegsluke hineinzuklettern. 2820 Kirschholzelemente hat Masuyama für diese Kugel mit dem Namen "O" aneinandergeleimt, 30 000 winzige Löcher gebohrt und in dieselben Fiberglasstäbe gesteckt. Im Inneren erstrahlt ein prachtvoller, exakt aus Karten übertragener Sternenhimmel, den man sitzend oder liegend genießen kann.
Die Kugel-Skulptur passt gut zur "Weltreise", jenes schmale Leuchtkastenband, das Masuyamas Weltumrundung einfängt. In 42 Stunden flog er um die Erde, fotografierte alle 20 Sekunden aus dem Fenster und montierte aus den Tausenden Aufnahmen ein fast 30 Meter langes Panoramabild. An die Wände hat er die Namen von Städten gekritzelt, Frankfurt, Los Angeles oder Tokio, eine kleine Ortung im unendlichen Blau des Himmels, das von Sonnenauf- und -untergängen oder dunkler Nacht unterbrochen wird. Noch monumentaler ist die Installation "flowers". 22 Meter lang, aber 2,40 Meter hoch packt sie den Betrachter körperlich an, vermittelt ihm das Gefühl, in einer Blumenwiese zu stehen. Mehrere Jahre fotografierte Masuyama immer dieselbe Wiese zu unterschiedlichen Jahreszeiten. So blühen Tulpen neben Mohn und Johanniskraut, reifen Brombeeren neben von Raureif überzogenen Gräsern. Frühling, Sommer, Herbst - alles findet gleichzeitig statt.
Irgendwann landet man vor "Family Porträt", einer Videoarbeit, in der Masuyama nicht nur sich, sondern auch Frau, Sohn und Eltern festhält. Indem er Fotos aus verschiedenen Jahren übereinanderblendet, erzeugt er ein bewegtes Bild. Und die Gewissheit, dass Altern ganz schön schnell geht.
Hiroyuki Masuyama: Raum Zeit Reise, Dienstag bis Sonntag, 14.30 bis 17 Uhr, Kallmann-Museum Ismaning, Schloßstr. 3b, bis 10. Mai
In einer umfangreichen Werkfolge widmet sich Hiroyuki Masuyama (1968 in Tsukuba / Japan) dem bedeutendsten deutschen Landschaftsmaler der Romantik: Caspar David Friedrich (1774-1840). Auf seinen Reisen zu den Orten, Bergen, Gipfeln und Küsten, die Friedrich in seinen Titeln nennt, muss Masuyama jedoch feststellen, dass die Sehenswürdigkeiten und Landschaften nicht mehr in der Weise vorhanden sind oder nie existierten. Masuyama erfährt, dass auch Friedrich nicht das gemalt hat, was er sah, sondern dass er seine Eindrücke im Atelier verdichtete und das endgültige Werk aus der Natur, seinen Skizzen und seinen Absichten entstand.
Masuyama Fotografien zu Caspar David Friedrich sind das Ergebnis einer völligen Neukomposition aus tausenden Aufnahmen, die Masuyama teilweise in jenen Regionen aufnimmt, an denen Friedrich einst seine Inspirationen sammelte. Masuyama erarbeitet seine Fotografien nach Studien und Skizzen mit Hilfe der digitalen Fototechnik und feilt an seinen Bildern, bis eine täuschende Ähnlichkeit entsteht, obwohl die Motive keineswegs identisch sind.
Erik Stephan, Kunstsammlung Jena