Mitteldeutsche Zeitung vom 22.3.2016
Halle (Saale) -
Er war schon überall und scheint auch aktuell wieder mal überall zu sein. Das allein wäre staunenswert bei diesem Moritz Götze. Doch der Unterschied zwischen dem halleschen Pop-Art-Star und anderen Kreativ-Umtriebigen besteht darin, dass Götze immer dort ist, wo’s drauf ankommt. Und das war letzte Woche die Leipziger Buchmesse, wo Götze eine andere Facette seines unglaublich breiten Schaffens entfalten konnte - die als Verleger. Doch wie es der Zufall wollte - und bei diesem Künstler immer will - hat das eine mit dem anderen viel zu tun.
Und so standen im Buchmesse-Regal des halleschen Hasenverlags gleich zwei Bildbände, die Bezug zu Moritz Götzes Werk haben. Einer indirekt und einer direkt - nämlich das Buch zur „Grand Tour“, jener Ausstellungstournee (siehe „Vier Kontinente“), mit der Götze gerade unter anderem seine schon drei Jahrzehnte währende kreative Zusammenarbeit mit dem Malerkollegen Rüdiger Giebler dokumentiert: Und zudem seine geistige und künstlerische Verwurzelung in Halle und Mitteldeutschland, die zugleich ein Quell steter Inspiration ist - was sich bei seinem Kollegen übrigens ähnlich verhält.
Nur Afrika fehlt. Sonst gibt es Ziele auf allen Kontinenten für die „Grand Tour“ genannte Welttournee von Moritz Götze und Rüdiger Giebler, die auf insgesamt 32 Stationen ihre gemeinsame Ausstellung „Made in Kaisersaschern“ präsentieren. Neben etlichen deutschen Ausstellungsorten - unter anderem Düsseldorf, Berlin und Saarbrücken, aber auch Ahrenshoop oder Witten - wird die Schau auch in London, Teneriffa, New York, Seattle, Melbourne, Bangalore und sogar in Kasachstan gezeigt. Start dieser Welttournee, die sich wohl über fast vier Jahre hinziehen wird, war in Brüssel. Derzeit ist sie in Halles Partnerstadt Karlsruhe zu sehen.
Giebler, der als der Philosoph unter Halles Malern gilt, ist ebenso wie Götze ein Sammler, ein Geschichts-Enthusiast und ein wandernder, ein radelnder und paddelnder Erkunder seiner Heimat, die für ihn selbstredend auch exemplarisch für die große Welt steht. Für jene Welt, die sie verstehen und erreichen möchten, wie ihnen Sachsen-Anhalts Kultusminister Stephan Dorgerloh (SPD) attestiert: „Die beiden Künstler wollen ihre Sicht auf die mitteldeutsche Geschichte in die ganze Welt tragen.“
Halles Pop-Art geht mit Götze und Giebler also auf große Fahrt! Fast vier Jahre soll sie dauern - und nach den aktuell laufenden Präsentationen in Brüssel und Karlsruhe auf der Basis eines übergreifenden Ausstellungskonzepts jeweils mit anderen Werken und variierenden Umfängen die Ausstellungsorte bespielen. Nächste Station ist Saarbrücken, wo am 15. April Vernissage gefeiert wird.
Unerlässlich zum Verständnis der auf den ersten Blick so unterschiedlichen, aber doch auch verwandten Bildwelten von Götze und Giebler ist ein nun just zur gleichen Zeit erscheinendes Buch des Hasenverlags. Es heißt „Zeit der großen Freiheit“ und beschreibt anhand von Fotografien des Hallensers Markus Werner jene Zeit in Halle (1989-97) und ringsum, als Götze und Giebler zu den Künstlern heranreiften, die sie heute sind. Und als sich die Stadt langsam aus den Trümmern des Sozialismus herausschälte und die Hallenser ihre neue Freiheit zu genießen und zu nutzen begannen: Wie, das erzählen in Texten die Schriftsteller Judith Hermann und Peter Wawerzinek, „Keimzeit“-Musiker Flake, der Journalist Jan Wätzold, Rüdiger Giebler und andere.
„Made in Kaisersaschern“ heißt mit Blick auf ältere Geschichte und Mitteldeutschland die Götze/Giebler-Schau. Die Asche, die die roten Kaiser hinterlassen haben, zeigt dagegen der Foto-Band. Aber wahrscheinlich hat ja auch hier alles mit allem zu tun. Zum Bildband „Zeit der großen Freiheit“ gibt es im September eine Ausstellung im halleschen Kunstforum der Sparkassenstiftung. (mz)
Moritz Götze in Erfurt: Cranach, Goethe und der Pop-Mops
16.01.2016
Lavinia MeierEwert / 16.01.16 / TA
Erfurt. In den emaillierten bunten Wunderwelten des Hallenser Künstlers lässt sich selbst bei Cranach noch etwas entdecken.
Im Westen gibt’s alles, hat Oma Götze immer gesagt. Von wegen. Nirgends konnte sie die „Goldfinger“-Single von Shirley Bassey auftreiben, die Enkel Moritz in Halle für seinen „James Bond“-Künstlerkoffer brauchte, die Deluxe-Edition seiner „Goldfinger“-Grafikmappe. Aber zum Glück war ’89 und also nicht nur das Jahr, in dem „Goldfinger“ 25 wurde, sondern auch das, in dem die Mauer fiel.
„25 ‚Goldfinger’-Singles bitte“, verlangte Moritz Götze in einem Hamburger Plattenladen. Wieder nichts. Der Schlitz im Bond-Kasten war aber schon gebaut – also sang der einstige Punkmusiker Götze den Song eben selbst (nach Basseys Text in Lautschrift, Englisch konnte er ja nicht). Und heute, nochmal ein Vierteljahrhundert später, kann man die limitierte Goldfinger-Schallplatte in der Erfurter Galerie Rothamel erwerben: für 340 Euro; die im Stil einer alten Grammophon-Platte gestaltete Volksausgabe schon für 10.
Im Goethe-Regal lehnt an Mephisto ein Tischbein
Eigentlich geht es in der neuen Ausstellung um „Cranach – Goethe – Götze“ und nicht um James Bond – aber wer würde im wachen, heiter bunten Götze-Universum schon trennen zwischen E- und U-Kultur? Zumal sich Moritz Götze mit seinem Deutschen Pop („einen besseren Ausdruck habe ich noch nicht gefunden“) selber als Vermittler zwischen beiden Welten sieht: der Kunstgeschichte, in der er wildert wie in einem Steinbruch, und dem Populären, mit dem die Leute etwas anfangen können.
Deswegen lehnen im deckenhohen „Goethe-Regal“ aus Emaille auch Dichter-Devotionalien, die man mehr oder weniger so kennt: der Gründgens-Mephisto an Schillers Schädel, das Weimarer Wohnhaus, ein paar Mineralien und ein Tischbein – wegen dessen Gemälde „Goethe in der Campagna.“
Moritz Götze kichert. Die Begeisterung steckt an, mit der er sich in Cranachs Bilderwelten stürzt („den liebe ich“), ins Leben und Wirken von Fürst Pückler („wunderbarer Park-Gestalter, aber ein unmusischer Mensch: hat nur über sich selbst geschrieben“) oder einen Crash-Kurs Frühromantik absolviert.
Da kommt dann sowas heraus wie der Novalis-O-Mat: Frühromantiker-Denken, das man sich am blau geblümten einarmigen Banditen erzocken kann – für 5 Cent die Runde gibt’s die Erkenntnis: „Mit Schiller und Kotzebue verliert man immer.“ 50 Euro hat Götze damit in seiner Ausstellung in den Jenaer Kunstsammlungen im vergangenen Jahr gemacht und sein „Automaten-Fieber“ weiter ausgebaut.
Gerade arbeitet er an einem „Lady Hamilton-Flipper“, den er in einer Ausstellung über die Mätresse von Admiral Nelson in Wörlitz zeigen wird. Und vor der Galerie Rothamel steht jetzt ein Mops-Automat: ein umgebauter Kondom-Automat, in dem man sich für 4 Euro einen original Götze’schen „Pop-Mops“ ziehen kann. In knallorange, so wie die 5 Meter große Riesen-Ausgabe des Hundes, die es in der Galerie zu sehen gibt. Warum ein Mops? – „Einfach so. Weil das ein lustiges Tier ist.“
Leicht und befreit von Getragenheit und ideologischem Ballast wie sie sind, kann man in Götzes Emaille-Arbeiten sogar bei Cranach noch etwas entdecken: ob bei Adam und Eva, die – den Bibeltext auf den Leib tätowiert – auf einem Inselchen mit Alltagsmüll stehen, im Rücken den Roten Turm von Halle. Oder im Porträt von Kardinal Albrecht von Brandenburg als heiliger Hieronymus in der Studierstube: der Kardinal als Ankleidepuppe inmitten seiner Accessoires: vom Pinsel bis zum gerahmten Christusbildchen.
Meine Damen und Herren, ich leite seit sechs Monaten ein Museum, ein anderes als vorher. Das liegt jetzt im Vorharz. Die Umstände kommen einem neuen Leben so nahe, dass ich mir diesmal vornahm, außerhalb dieser Perspektive mindestens ein Jahr lang keine Reden mehr zu schreiben. Und? Trotzdem bin ich hier. Woher kommt die Schwäche? Liegt es daran, dass nicht wirklich eine Rede verlangt ist, sondern mehr so ein Jubiläumsding? Eine Laudatio ist keine Eröffnungsrede. Sie ist feierlich, also abstandsverneinend. Sie ist anlassbestimmt, also frei von weiteren Gründen. Offenbar habe ich zugesagt, weil ich dachte: „Keine Bescheidwisserprosa? Na gut!“
Eigentlich herrlich sogar! Ein Festredner darf abschweifen und einfach alles sagen. Nur das eine nicht. Man darf nicht sagen, dass 50 Jahre sogar für einen Künstler ein halbes Jahrhundert bedeuten. Kreativität altert nicht, das weiß jeder. Nur der sowieso immer unsympathische Jean Jacques Rousseau sah auch das anders. Als er 50 wurde, erklärte er der Welt, er trete nunmehr ins – Greisenalter ein. Das war 1762. Für diese Indiskretion wurde er mit der Unsterblichkeit betraft. Und so konnte ich diesen kalten Bekenner auch 252 Jahre später noch beim Selbstmitleid erwischen.
Heute wäre jemand, der sich mit 50 zum Greis erklärt, reif für die Talkshow. Dann würde er mit Aryuveda-Kuren konfrontiert, müßte Wohlfühlshops testen und bekäme es mit Boddystyling oder therapeutischer Selbstfürsorge zu tun (von Bestellportalen für Viagra oder Antiagingcremes nicht zu reden). Rousseaus schwarzes Bekenntnis macht deutlich: Das Emanzipationsprojekt der Aufklärung hatte eine Verleugnungsindustrie zur Folge. Wer heute das Altern Altern nennt, wird nicht mehr unsterblich, sondern bekommt die Höchststrafe – er wird prominent.
Meine Damen und Herren, die Frage ist vielleicht nicht so sehr, warum das so ist, sondern die, warum ich das sage. Keine Ahnung. Ich weiß nur nicht, wie ich anders zur Tatsache überleiten soll, dass Moritz Götze, statt übers Altern nachzudenken, Paddelboot fährt. Das ist kein persönliches Ausweichkonzept. Er merkt gar nicht, dass er etwas unterlässt. Eher ist er unbekümmert, mit der Wahrnehmungsgebundenheit des beschäftigten Kindes gesegnet und auch erwachsen noch ins Spielen vertieft. Überall bunte Steine! Götze ist Maler, Grafiker, Handwerker, Hausbesitzer, Weltreisender, Sammler, Archivar, Familienvater, Künstlersohn, Verleger, Projektemacher und, ich fasse es nicht: Museumsbesucher. Kaum einer kann ihm widerstehen, weil keiner weiß, wer er gerade ist.
So gesehen kommt alles darauf an, ob man dienstags oder mittwochs um eine Rede für Götze gebeten wird. Mich rief Jörk Rothamel an einem Mittwoch an, als ich gerade in den Briefen Rousseaus blätterte. Ich wusste sofort, dass Götze den bestimmt nicht liest. Und so hatte ich, noch bevor ich den Hörer auflegte, schon einen Redepunkt: Der eine war Philosoph und zerbrach mit seinem „Zurück zur Natur“ eine ganze Epoche, folgte aber seinem Denken nicht und vergreiste lieber ohne Sauerstoff. Der andere ist ein geistiger Wanderradrennfahrer, übergeht ganze Epochen und folgt einem Lebensentwurf, der nach keinerlei Bekenntnissen verlangt.
Ein Anfang für die Rede. Was meinen Sie? Ihm folgt: Eher als dem Genfer Misanthropen würde Götze einem anderen folgen, einem, der aus seiner eigenen Landschaft stammt. Der nämlich hatte geraten: Traue keinem Gedanken, den du nicht im Freien angetroffen hast. Friedrich Nietzsche, der wie Moritz Götze alle Fundamentalisten hasste, hatte als passionierter Spaziergänger dem „Zurück!“ etwas abgewonnen, das viel näher lag: „Wir sind so gern in der freien Natur“, schrieb er, „weil diese keine Meinung über uns hat“.
Das steht in „Menschliches. Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister“, veröffentlicht 1880, in dem Jahr also, als Anton von Werner jenen Saarbrücker Rathauszyklus gemalt hat, den Götze 2006 noch einmal aufpolierte, weil er festgestellt hatte, dass die Meinungen über diesen Vorgängerkünstler seiner Wirksamkeit nicht gerecht werden. Und er hatte Recht. Meinungen sind Gewissheiten ohne Wissen. Meinungen über Kunstwerke sind die Pest. Man kann gar nicht oft genug über sie hinweg malen, meine Damen und Herren. Das Gewicht, das wir Meinungen einräumen, auch unseren eigenen, verheert unser vergängliches Leben noch nachhaltiger als unser Wunsch, zu den Guten zu gehören. Vielleicht zielt darauf ja auch der Titel der Ausstellung, in der wir hier stehen: Schönheit fällt als Begriff auf die Seite der Meinung. Das Gute auf die des Untergangs.
Das soll sagen: Auch dieser Titel ist auf Götzische Weise richtig geirrt. Schönheit und Untergang sind Projektionsbegriffe unserer Sehnsucht. Sie operieren als etwas Herbeigerufenes geistig auf ein und derselben Ebene. Gegenüber gestellt, wie hier, haben sie gar keinen Sinn. Deshalb erinnert „Schönheit & Untergang“ mehr an das Namenspaar eines Firmenschilds. „Schönheit & Untergang“ ist wie „Breitkopf & Härtel“ oder „Moritz & Jörk“, weit weg jedenfalls von der Polarität einer begriffsscharfen Logik. Die würde ja „Schönheit & Häßlichkeit“ erzwingen. Aber das klingt, wie das Richtige oft, überhaupt nicht gut. Das Gegenwort zu Untergang wäre wohl Aufstieg. Spinnt man das weiter, kommt man schnell in die laue Luft essayistischer Poesie und könnte „Schönheit im Untergang“ oder „Schönheit als Untergang“ erwägen. Andererseits ist der Begriff „Schönheit“ als Gegenstand der zeitgenössischen Ästhetik selbst dem Untergang geweiht, weshalb man eigentlich „Untergang & Untergang“ titeln, oder in der vorigen Variation sogar „Untergang als Untergang“ sagen müßte.
So ist das eben bei Götze: Ohne Verzug ist man an jeder Eindeutigkeit vorbeigepaddelt und macht erst bei den Tautologien wieder Rast. Mit den Tautologien aber ruht man im Kern aller Kunst. In ihr korrespondiert das Prinzip der systemischen Selbstorganisation mit dem Prinzip der partiellen Selbstbezüglichkeit. Kunst ist Ausleeren und Wiederfüllen von Bildern und Worten. Niemand sieht das so heiter wie Moritz Götze.
Die dumme, weil tausendfach von der Praxis abgewiesene Frage, ob man aus der Geschichte etwas lernen könne, lenkt Götze in die Frage um, ob man ihr etwas entnehmen kann. Natürlich! Man kann ihr alles entnehmen. Alles – außer Sinn. „Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen“ – meine Damen und Herren! Es lohnt sich, dieses Hauptwerk des Nietzscheaners Theodor Lessing wieder einmal zu lesen. Es bestärkt das Gefühl, dass Geschichte, ohne selbst etwas zu sein, alles darzustellen vermag, was eine interessenbestimmte Gegenwart von ihr erwünscht. Den Sinn stellt man selber her, indem man sich der Zeichen, Insignien, Symbole und Werke der Vergangenheit bemächtigt und so, weil man in einer anderen Zeit agiert, die Kriterien des Zugriffs kenntlich macht. In der Kunst kann man die Zugriffsweise „Stil“ oder „Handschrift“ nennen. Im vorliegenden Fall hätte man es statt mit der Vergötzung des Gewesenen mit dessen Vergötzigung zu tun.
Vergötzigung. Bei ihr schwimmt „Goethe in Italien, nach Tischbein“, Emaille, auf dem Öl von „Goethe in der Campagna“, während der Jahrhundertdichter unentwegt „auf denen Ruinen sitzet und über das Schicksal der menschlichen Werke nachdenket“. Götze hätte es nicht schöner sagen können als sein verblichener Kollege Tischbein. Besser malen wollte er das aber schon. Ein fröhlicher Ernst. Schließlich ist das, was Götze unter seine Hände nahm, ein Programm-Bild des 18. Jahrhunderts. Den Reiz an der Sache hat Götze allerdings sofort erkannt: Programmatik ist selten schön, immer jedoch der Untergang eines Kunstwerks.
Das Gemälde von Tischbein lebt heute nur noch in den Reflexen posthumer Klischees über die Person des Porträtierten. Als Malerei hatte das Bildnis schon damals keinen Bestand. An der Anatomie wurde gemäkelt, die falsch angehefteten Füße wurden belächelt, die unwirkliche Liegehaltung auch. Natürlich machte nicht seine Mißratenheit das Gemälde berühmt. Die Ursache für das Mysterium ist vielmehr die Schlichtheit seiner Botschaft. Vor allem sie, die emblematische Einfalt, machte das Porträt geeignet, eine ganze Epoche zu repräsentieren. Der Vorgang bestätigt uns, meine Damen und Herren: Simplizität ist untergangsresistent, Schönheit nicht.
Was aber ist mit der Schönheit passiert? Sie reicht bei Tischbein nur bis zur Absicht, weshalb er ein Problem mit der Angemessenheit bekommt: Das Bildungsdekor ist als Malerei nicht großartig genug, um sein Format zu tragen. Goethe selbst, der das Bild nicht mochte (so sehr es ihm diente), hatte das in einem vergifteten Lob schon angemerkt: Das Motiv gebe
„ein schönes Bild“, schrieb er auf, nur sei es „zu groß“ – und jetzt kommt das Gift – „für unsere nordischen Wohnungen“. Das Original hat 1 Meter 64 auf 2 Meter 06. Und Götzes Maßnahme? Er überwindet den Schmerz am zu groß geratenen Schönen, indem er es in den Untergang von 2 Meter 50 auf 3 Meter 60 treibt. Das heißt, er transformiert die Überlebensgröße des Kleinbürgerbildes in die Richtigkeit eines künstlerischen Monuments. Der Akzentwechsel ist elementar: Aus dem Monument der Person entsteht das Monument eines Bildes.
Damit ist das Wohnzimmer für immer erledigt, noch längst nicht aber die Malerei. War an der Schönheit noch etwas zu retten? Natürlich. Man musste die Färbung vor allem in eine Farbigkeit heben. Statt der blassen Kolorierung des Klassizisten wählt Götze eine komplimentäre Vollresonanz zwischen Lila und Gelb, Farbkreisübergänge zwischen Blau und Grün eingeschlossen. Das alles unter einer glänzenden Oberfläche und im Schmelz von Glasflusspigmenten. Emaille, in der Malerei nur als segmentierte Umrissfigur denkbar, plakativ gegliedert und unfähig, Valeurs zuzulassen, Emaille ersetzt den Verwirklichungsstoff der Illusionsmalerei, das geschmeidige Modellieren in Öl und Terpentin. Ohne die Verlaufsform von Abstufungen entfällt auch die Scheinplastizität des Gesehenen im Für und Wider von Licht und Schatten. Emaille macht die Malerei hart, aber ehrlich. Ein Kröllwitzer Gruß Richtung Frauenplan.
Mit diesem Vorstoß gewinnt nicht nur das Kolorit, sondern auch das Motiv. Goethe in grünen Strümpfen, die ihm sicher gefallen hätten, sitzet bei Götze zwar immer noch „auf denen Ruinen“. Aber jetzt sind es die Ruinen des früheren Bildnisses, auf die es ankommt. Mit seinem Bild zum Bild hat diesmal Moritz „über das Schicksal der menschlichen „Werke“ nachgedacht und nicht der von Tischbein beauftragte Wolfgang.
Trotzdem. Es ist noch nicht vorbei: Der Bildhintergrund ist bei Tischbein eine klassisch ausgeräumte Gedankenlandschaft voller toter Kompilationen zwischen Zeitsymbolik und Trümmersentiment. Von Ägypten bis zum barocken Rom wurde dabei die Kulturauffassung der Klassik penibel durchbuchstabiert. Götze macht daraus eine dicht besetzte Müllhalde von schwach erinnerten Verweismotiven. Er belässt es bei einer Draperie, die im einzelnen nichts mehr besagen will, weil die Bruchstücke der Bildung sowieso nicht mehr zu uns sprechen. So fegt er die tüftelnde Bezüglichkeit von Tischbeins künstlerischer Glaubenswelt hinweg. „Antikenschrott mit Erinnerungsfigur“ könnte man das Bild von Götze nennen, denn es thematisiert ja vor allem, was man vermisst.
Es entsteht ein Bild-Aggregat von einiger Komplexität. Fern von aller akademischen Malerei, wie sie in Erfurt, Halle und Quedlinburg noch heute gepflegt wird, übergeht das angetäuschte Relief die Konventionen des Tafelbilds. Außerdem definiert Götze die rechteckige Vorlage der Kunstgeschichte in so etwas wie die oblonge Variation eines anderen Mediums um: Es entsteht eine Brosche. Ein Riesending natürlich, das sich als Schmuckstück selbst konterkariert. Niemand könnte das tragen. Aber es funktioniert wieder, wenn man es als Brosche am Plüschkleid unseres Geschichtsdenkens betrachtet.
„Schönheit & Untergang“, will ich sagen, das ist eine Ausstellung, die zuletzt ein Bild von uns selbst zeichnet. Sie führt uns die Relativität unserer Vorstellungen vom Sinn der Bilder vor Augen. Und sie stellt uns als die Meinungsträger hin, über die wir, wenigstens bei Eröffnungen, ab und an einmal lächeln sollten. Das ist vom Künstler sehr milde gedacht, und ein Geschenk. Das Geschenk von einem, den eigentlich wir feiern und beschenken wollen.
Ist man bei dieser Umkehrung angelangt, blickt man unsicher um sich und stellt fest:
Er hat es schon wieder getan! Er! übernimmt die Autorenschaft in dem Spiel und wir werden zu den Tischbeins seiner Lust. Ist es so, hilft nur mitspielen. Deshalb danke ich jetzt dir, lieber Moritz, für deine Laudatio zu meinem 50. Geburtstag, den ich vor zehn Jahren beging. Mach ruhig weiter so. Langweilig wird das in 50 Jahren nicht.
Michael Freitag Quedlinburg, 27. Juni 2014
Moritz Götze – Schönheit & Untergang. Eröffnung, 28. Juni 2014, 21 Uhr. Galerie Rothamel, Erfurt.
Doch, es gibt intelligente Künstler. Natürlich sind es nur wenige. Moritz Götze ist einer von ihnen. Man erkennt sie weniger an dem, was sie anstellen, als an dem, was sie vermeiden. Etwas zu vermeiden, ist eine unschätzbare Leistung, wenn alles erlaubt ist. Aber es wird zur Überlebensfrage, wenn man von Verboten umstellt ist. In der DDR war das der Fall. Das offiziell Erlaubte war hier das Verbotene für den, der überhaupt Künstler werden wollte. Und wer mit dem offiziell Verbotenen liebäugelte, wurde DDR-Künstler. So entstand das listige Anspielungswesen in der Kunst des Ostens, eine seltsame Kryptik des verneinenden Weitermachens. (Denn auch ihre Kritik sublimiert eine Doktrin.) Dem Teufelskreis konnte nur entgehen, wer etwas herstellte, was als Kunst garnicht erst diskutiert wurde. Totalvermeidung. Das war der Königsweg. Götze hatte das schnell verstanden. Als Siebzehnjähriger zog er noch kleine, schmutzige Radierungen wie Dancing fool oder Scheiße Mauer ab. Bald aber gab er auch das auf und das Kunstvolle gleich mit: Er wurde Sänger in der Gruppe Größenwahn und blieb ansonsten der Zögling seines Vaters, der auch schon nicht ausstellen durfte. Der Junior produzierte Plakate, Meldungen, Zeichen, Gestaltersachen – arme Zeugen vom Rande, die außer denen, auf die es ankam, keiner ernst nahm.
Als der Staat, die Zensur und die Isolation vorbei waren, änderte sich für ihn nichts. Denn „offiziell", „inoffiziell", „verboten", „erwünscht" blieben für die Kunst nicht weniger dürftige Sekundäranlässe als ungeschriebene Gesetze (Konventionen), inspirierte Geselligkeit (Zeitgeist) und Gesten der Selbstvermarktung (Allüren). Immer noch galt, zum Für oder Wider jenen Abstand zu halten, der allein es erlaubt, den Betrieb als Phänomen aufzufassen und ihn zum Material zu machen. So wurde das Parodieren und Paraphrasieren von Kunst Götzes Arbeitsprinzip. Er spielt mit allem, was ihm als diese oder jene Kreation entgegen kommt und macht etwas Drittes daraus, weil Kunst sowieso immer schon angehängt, von Früherem hergeleitet, also auch von überkommenen Bedeutungen belastet ist, das Reflektieren dieser Belastungen und der bedeutenden Überkommenheit eingeschlossen. Hält man es so, setzt die große Entspannung ein. Man sucht nicht das, was die eigene Position forciert (Avantgardewahn), sondern das, was sie verunsichert (Freude). Darum auch sammelt Götze jeden Kram. Er nimmt zu sich, was ihn anrührt. Fundstücke, die ein Bild ihrer eigenen Geschichte abgeben, durch die Nachbarschaft mit anderem Fremdzeug aber auch in die unverhoffte Gegenwart neuer Bildmöglichkeiten drängen. Wer im Trödel die Unschuld von Motiv und Sprache sucht, findet es auch leicht, den Zirkeln der Stilbildung fernzubleiben: Abstraktion, Konkrete Kunst, Pop, Neue Wilde ... das alles waren, als Götze mit den Bildern anfing, nicht weniger ramponierte Kulturkreisbegriffe als der Realismus, der ihm auf der letzten Bezirkskunstausstellung begegnet war – Abgrenzungsgesten, Ideologieästhetik, Kollektivereignisse, für die es außerhalb der Gruppen keine notwendige Zeichensprache gegeben hätte. Götze vermied also auch das Festlegen strategischer Durchbruchslinien, das Akademische des Antiakademismus, Bravourdes Negierens, Virtuosität des Vortrages, Philisterschock durch Ekelerzeugung, empfindsame Materialgeometrie, konzeptionelles Leute dirigieren. Lieber nicht. Denn Götze ist ein sonniger Mensch, ein Selbstbildungserschaffer, wie Jean Paul vielleicht gesagt hätte, ein professioneller Dilettant.
Vor diesem Hintergrund ist es reine Hilflosigkeit, seine Bilder mit bestimmten Genres oder Richtungen festlegen zu wollen. Zum Beispiel mit dem Comic. Die Kritik oder sonst gut meinende Werbeprosa griff zu dem Hilfsverweis, weil um Götze herum, außer in der Familie, keine Gesinnungsrunde zu finden war, die eine Zuordnung erlaubt hätte. Andererseits wirkten seine Bilder grell und seine Figuren schienen irgendwie hingekrakelt. Aber Comic? Das hatte schon die Stasi falsch verstanden, die den Operativen Vorgang Götze mit der Bezeichnung „Max" tarnte – im Vertrauen darauf, dass dann der „Moritz" von alleine käme – weil: Wilhelm Busch, Erfinder der Bildgeschichte, den kannten sogar die. Götze aber erzählt keine Bildgeschichten, schon gar nicht solche grausam eleganten wie dieser geniale Misanthrop aus dem vorletzten Jahrhundert. Er ist auch kein Misanthrop. Und er zeichnet auch nicht nach der Natur. Natur ist für ihn ein „Vorwurf", aber nicht im akademisch narrativen Sinne, sondern mehr in die Richtung, sich um Ansichten selbst zu kümmern. Deshalb wurde er zu einem Zeichenmonteur und Motivklitterer. Er ist der Schnittmusterentwerfer einer Phantasiewelt, in der Figur, Kostüm und Dekoration zusammenfallen, aber kein Stück ergeben. So gerät in seine Blätter auch nichts Durchgehendes, nirgendwo Abläufe oder Helden, die einer Mission von A nach B folgen, während sie das Böse im Auge behalten. Es gibt zwar sprechende Titel, aber keine Texte, die das Bildpersonal verständlich machen oder eine Handlung im Plot dramatisieren. Es gibt nicht mal eine Handlung. Nur ein Geschehen: Etwas passiert. Aber was? Die Leute auf seinen Bildern sind sich überall ähnlich und wechseln einander ab in wechselnden Szenerien, die sich dann ebenfalls wiedererkennen. Seine Figuren sind Figurinen, Gestaltschablonen im Zusammenhang mit einem Bildganzen, in dem nichts Einzelnes wichtiger ist als das andere. Der Bildsinn ergibt sich aus der Konstellation von Requisiten, als die man jedes Einzelmotiv ansehen muss. Eine unendliche Flut von verlorenen, kippenden, zugeneigten, eingekreisten, abgedrängten Details, die um die Verhältnisse einer vernünftigen Ordnung gebracht sind und wie in einem Kaleidoskop zu einem hellen Bild erstarren. Es klickt, plötzlich ist etwas ganz anderes da, obwohl der Künstler nur gedreht hat. Die Motive lagern als Flächen auf der Fläche und geben ein Innen ohne Tiefenillusion. Tiefe kommt hier aus stufenloser Klarheit: kein Licht, nur Leuchten, keine Valeurs, nur Farbebenen, keine Schatten, nur Linien für scharfumrissene Embleme. Vermieden ist demnach, wie auf einem Bilderbogen, neben dem Ausdruck eines Richtungsbekenntnisses auch die Aura einer spezifischen Kunstfertigkeit. Das gilt für den Bildraum, aber auch für den Bildträger, die Technik oder die Handschrift. Die Flächenstruktur unterläuft als Zeichenstruktur alle Bildhierarchien und die Fragen nach Materialgerechtigkeit.
Mitteilung und Mittel bilden ein offenes Bildsystem, das überall niederkommen kann, ohne seine Evidenz zu verlieren. Diese Egalisierung der Medien bedeutet einen Übergriff, dessen Reichweite nur im Rückblick sichtbar wird: Im Osten war die Malerei noch immer Primärdisziplin alles Bildnerischen, die Grafik wurde handwerklich gesinnten Feingeistern überlassen. Griffelkunst war Refugiumskunst. Der Empfindsamkeit in den Techniken der Vertiefung (Ritzen, Schaben, Ätzen, Papierschöpfen) setzte Götze den Siebdruck für homogene Oberflächen entgegen. Das Verfahren ist für ihn gut, weil sich mit ihm ein ebenso schnell erreichbares wie rigoroses Gestaltsystem für sein Gesamtschaffen aufbauen lässt: Indem er Leinwand, Papier oder Blech auf einer Sprachebene abhandelt, erweitert Götze die Wirkungsräume für das Niederkommen seiner Bilder. Seine Grafiken unterscheiden sich als Formwesen nicht von seiner Malerei, und seine Installationen sind räumliche Grafikmalerei, die auch das Umfeld zum Bildträger, also zur Fläche machen. Es spielt dann keine Rolle mehr, ob die Bilder gemalt oder gedruckt sind oder in Emaille oder als Keramik gebrannt wurden.
Am besten lässt sich diese fröhliche Grenzüberschreitung an seinen Emaillen begreifen. Spezialisten kennen den Werkstoff zwar auch aus der Schmuckherstellung, aber der gewöhnliche Mensch versteht unter Emaille vor allem die industriell vollbrachte Gebrauchshässlichkeit von Kochtöpfen und Hausschüsseln. Diese Veredelungstechnik aus der Unansehnlichkeit ihrer Elementarfunktionen zu heben und in die schöne Welt einer strahlenden, figurenreich ruckelnden und in Quadratmeter gedehnten Bildinstallation zu transferieren (Victoria, ScapaFlow), ist ein schlagendes Beispiel für Götzes Grundauffassung: Als multipler Bildentwerfer will er die Heiterkeit von Brechungen in der Materialsprache des Armen. Und das funktioniert an der Wand so gut wie auf dem Tisch oder auf einem Teich oder nahe der Autobahn.
Vielleicht kam aus dieser Ecke der Verdacht, Götzes Bilder könnten nicht nur als Comic, sondern sogar als Extranummer eines Ost-Pop verstanden werden. Aber auch das wäre für diesen Maler zu absichtlich gedacht, zu angelehnt für jemanden, der unbefangen auf Themen und Motive losgeht und sich da oder dort holt, was er braucht. Gerade diese intentionale Offenheit ist ja der Grund, weshalb in Götzes System der Impuls jeder historischen Vorgängerkunst frei mitschwingen kann, auch die Pop-Kunst dann. Deren Bruch mit der sie umgebenden Kunst bestand ja darin, nach Dada und Duchamp noch einmal die Straßenwelt in die Kunstwelt hinein zu brutalisieren, zugleich aber auch den Zusammenhang zwischen Werk und Urheberschaft zu zerrütten. Es ging darum, die Kunst dem Druck der industriellen Massenproduktion auszusetzen, um dem Billigen oder tausendfach Einzelnen, selbst dem Schund, der ja überall herumlag, einen Blick zuverschaffen. Wenn man dann auch noch die Reproduktionstechniken der Industrie übernahm, war ein Endpunkt erreicht: Auf den Ölbildern Lichtensteins oder Rauschenbergs hatte das Rastern gar keinen technischen Sinn, ermöglichte aber eine überwältigende Flächenästhetik, die skrupellos durch die reproduzierbaren Bildwelten zu marodieren erlaubte und vor nichts haltmachen musste. Die Ästhetik des Maschinellen war genau das, was die in Melancholie versunkene Nachkriegskunst dringend zu brauchen schien – die Unterdrückung von seismischer Handschrift und persönlicher Spur. Nicht Sondergrübeln war mehr gefragt, sondern konkreter Umgang mit dem, was vom Leben als Bild des Lebens noch übrigblieb. Heraus kam etwas wie du und ich: Lenin oder Lolo, bunt, glatt,dekorativ, massenhaft und entmachtet: Oberflächen. So konnte man Elan in die Sache bringen und nebenbei die Topoi des Erhabenen, formal Geläuterten oder rein Geistigen denunzieren, aber auch deren Übertragungstechniken: Goldrahmen, Kunsttempel, Besucherwissen, Weihen des Abgewendeten und intern Monologisierten. Es ist dieser anarchische Grundimpuls, Kunst und Ewigkeitauseinander zu bringen, der bei Götze noch virulent ist. Nur stellt er sich nicht gegen andere Kunst und kritisiert sie auch nicht. Vielmehr bezieht er das avanciert Beanstandete in seine Arbeiten treuherzig wieder ein. So malt er die Barockrahmen, die vor 60 Jahren als Fetische eines hinterbliebenen Kunstdünkels gehasst wurden, einfach doch wieder, ja er schneidet sie zu wuchernden Dekorationsaggregaten aus. Das Ornament wird noch einmal gegen den Horror der Leere gesetzt und als Verbrechen dem Lustprinzip zurückgegeben, aus dem es einmal erwachsen war – Götze kommt auf seine umstandslose Weise auf alles zurück. Dann ist es auch keine Schwierigkeit mehr, sich eine persönlicheNationalgalerie zu schaffen, mag sie auch als Pantheon frivol verehrter Altväterlichkeit gelten. Dann ist es nur noch logisch, sie auch gleich in der Fassung jener Kunstbände herauszugeben, die um 1900 bei Velhagen & Klasingerschienen waren – vor! jeder Moderne, nobel und diesseitig jetzt. Das ist seine liebevolle Methode, wieder mal nachzufragen, ob Kunst etwas mit dem Höheren zu tun haben solle oder nicht. Man könnte es bei ihm eine Verneinung durch Bejahung nennen und ist dann sehr auf Götzes Bilder angewiesen, um zuverstehen, wie so was funktioniert: nur mit Lächeln natürlich und nur mitdieser Art von Vorurteilslosigkeit.
Man kann es an seinen Historienbildern zu Historienbildern nachvollziehen. Er lässt die unerwünschte Erbschaft wie sie ist: abgetan, gefürchtet, bestaunt. Götze sieht die Bilder allerdings eben nicht als Transparente aus dem Gestern an, sondern als Kunst, die gemacht wurde und immer noch da ist, als ästhetische Vorkommnisse, die für das kollektive Gedächtnis eigens konstruiert worden waren. Ihm geht es um das Ereignis dieser Gemälde, weil sich dann die Ereignisse, die sie darstellen, von selbst erledigen. Darum irrt Ralph Melcher auch, wenn er schreibt, Götze überprüfe, „in welchem Licht die Männer und Taten von damals heute erscheinen". Vielmehr zeigt er, in welchem Licht sie immer schon standen, wenn man die Bilder als Bilder nimmt. Nicht die Taten waren zu offenbaren, sondern die Inszenierungsverfahren, mit denen ein Maler die historischen Ereignisse frisiert, also um ihr Dasein gebracht hatte.
Niemand eignete sich für diese Aufmerksamkeit besser als der Kaisermaler Anton von Werner. Mit seinem Zyklus zu dessen preußischen Glorienbildern demonstrierte Götze, was das von Klischees erhitzte Material ertragen kann, wenn man es im kalten Wasser einer unzuständigen Bildsprache abschreckt. Man kann das Abschrecken ruhig Götzes proletarischen Entlastungsstil nennen. Er ruiniert mit ihm die Effekte machtvoller Dekorationsmalerei bis ins Innerste, ohne die Komposition oder die Figuren karikieren oder verspotten zu müssen – er malt die Bilder einfach nach. Aber die formalen Reduktionen des Götze-Strichs, die er den fremden Vorlagen zumutet, bringen diese auf den Kern ihrer Bildlichkeit: Die feinpinselige Detailüberfütterung und das effektvoll abgestufte Kolorit werden auf die Diät rabiater Konturen und die Verwendung ungebrochener Farbflächen gesetzt. Durch das Auszehren der Kunstfertigkeit schrumpfen die Motive zu jener rampenhaften und theatralischen Gestelltheit zusammen, die im gleißenden Vortrag hatte verborgen werden sollen. So bekommen die Vorbilder eine Struktur des Ungetäuschten oder, wenn man will: eine nachbildliche „Richtigkeit", die das platte Anliegen umso sichtbarer macht. Das heißt: Man sieht die Simplizität der Botschaft, wenn man sie einmal durchbuchstabiert, aber auch die Verlogenheit, zu der Kunst immer fähig ist, wenn sie die Realität des Bilde sals ein Bild der Realität ausgeben will. Erreicht wurde eine Entbannung der Betrachtung. Indem Götze diese Kunst als Kunst nahm, ging er angemessener vor als jene Kunsthistoriker, die das Werk Anton von Werners ins Deutsche Historische Museum hängten und seinen Bildern allein durch die Versetzung an diesen Ort den Kunstcharakter absprachen.
Kunst auf diese Weise zu reinen Geschichtszeugnissen umzuwerten, wurde dann auch mit der DDR-Kunst versucht. Götze hat noch einmal nachgeholfen, indem er sich mit Ikonen der DDR- Malerei auseinandersetzte. In der Folge re:realismus malte er Werke der Staatskunst und mit ihnen Lieblingsbilder des Publikums zu Götzes um. Und? In der Umwidmung konnte man sie wieder mögen, auch naiv oder abstrus finden – jedenfalls aber für möglich halten. Durch die Brechung des Nachschaffens werden sie als eigenartige Bildschöpfungen sichtbar, bleiben als Kunstsache jedoch respektiert.
Zum Beispiel das zu Tode komponierte Gruppenbild Parteidiskussion von Willi Neubert. Götze löst es in ungebrochene Töne auf, zieht das Motiv dadurch glatt und verschafft ihm, im Gerüst stabiler Konturen, den unsteten Anblick eines durchgehend flackernden Farbauftrags. Die Malerei verliert auf einmal die Gebundenheit an ihre stilistische, soziale und historische Herkunft und legtunversehens die Eigentlichkeit des Motivs frei: Ein Abendmahl kommt zum Vorschein, das Bild einer Botschaftsüberbringung. Das Genossenbild gerät erst in die Tiefen der abendländischen Ikonographie und kehrt dann über die Staffage der Heilserwartung in den ursprünglichen Bildanlass wieder zurück – zur kollektiven Zeitungsschau unter Brigademitgliedern, denen als Jünger eine Art von Verkündigung zuteil wird. Was an Gedanken immer schon in dem Neubert-Gemälde steckte, gewollt oder nicht, gibt sich jetzt, im Wiedergänger, erst zu erkennen und lässt so auch einen Affekt zu, der nicht mehr nur auf ideologischer oder stilistischer Ablehnung beruht: Die thematische Enge, aber auch die verkorkste Malerei bekommen in dem geistigen Raum, der sich hinter ihnen öffnet, fast etwas Ergreifendes, weil in jeder Hinsicht Verfehltes. Man kann gar nicht wegsehen. Und auf diese entwaffnende Weise nimmt der Maler einer späteren Generation gastfreundlich auf, was in die Bildwelt seines Lebens gehört, auch wenn es ihm fremd ist. Er kann es nicht abweisen, gibt Nahrung, Decke, Heimstatt und rettet es für sich vor sich selbst.
Nicht nur die DDR, die ganze Kunstgeschichte als die unendlich ausgedehnte Landschaft ihrer eigenen Wirklichkeit wird auf diese Weise hereingeholt. Das zeigt Götzes Hinwendung an Wilhelm Eduard Daeges Gemälde Die Erfindung der Malerei (1832) geradezu exemplarisch: Eine Muse entdeckt das Prinzip, indem sie vom Schatten des Modells die Kontur nachzeichnet – das ist es ja auch, was Götze macht. Er nimmt vom Vorwurf den Schatten ab. Heraus kommt etwas, das weder Modell noch Abbild ist, sondern sich einer Handlung verdankt, deren Wirkung ihre Ursache „vertuscht" – sonst handelte es sich nicht um ein Bild. Keine „Bewältigung" also, keine Enttarnung, kein Schuldigsprechen, keine altkluge Korrektur – eine Erhellung eher.
Man steht vor einer Anschaulichkeit, die, wovor sie auch entfaltet wurde, vom Bildanlass immer weit genug entfernt bleibt, um in sich selbst bestimmt zu sein. Dann ist die Bahn frei. Leitbilder der Preußengeschichte kommen als Kunstdinge für die Betrachtung in Betracht, aber auch Glasfenster des Hochmittelalters, Heiligtümer der Romantik oder Schwellkörper des gründerzeitlichen Historismus. Selbst Adolf Menzel tritt auf, in der Gestalt des Bildhauers Begas freilich. Als Büstchen steht er auf dem Tableau eines Stilllebens, das unter allerlei Buntstifte geriet und so auch im Material irgendwie häuslich wird. Das bliebe auch so, wenn Götze die Apokalypse malen würde. Er schenkt den Verhängnissen der Fremdheit, dem vermüllten Planeten, dem Vergessenen oder Verkümmerten zwischen Fensterbrett, Strand und Luftkriegshimmel immer die Poesie einer letzten Unberührbarkeit, das Gewicht eines fraglosen Daseins, also auch ein Staunen, weil bei ihm das Ereignis zählt, nicht sein Grund. Es so zu sehen, macht ihn zum Künstler, es so zuzeigen, zu Götze.
Das 21. Jahrhundert hat uns wieder einmal an einen Punkt gebracht, der greifbare Herausforderungen zur Mangelware werden lässt. Kontinente, Pole, Gipfel und Tiefseegräben sind erforscht, die Claims abgesteckt und die Städte saniert. Scheinbar kann man nahezu alles per Knopfdruck erledigen, vom Einkauf bis zum militärischen Angriff. Der Rest ist Langeweile, und die Weltretter müssen Mails checken, bis irgendwann neue Großtaten möglich werden.
Ein Glück, dass es Moritz Götze gibt! Jenseits der Trampelpfade der Kunstszene und der politisch korrekten Parolen ihrer Zensoren entdeckt er jede Menge Abenteuer, Glaubensfragen und drängende Werke. Es stellt sich heraus: Unsere Welt ist unvollkommen, wunderbar und voller Gelegenheiten für große Taten!
Götze findet die kostbaren Brüche in der scheinbaren Alternativlosigkeit, und wer mit ihm zu tun bekommt, weiß, es gibt genug zu tun. Die letzten Jahre der DDR, von ähnlich bleierner Perspektivenarmut geprägt wie der Westen dieser Tage, verbrachte Moritz Götze mit rebellischen Verbesserungsmaßnahmen. Weil es zuwenig gute Musik gab, organisierte er Punkkonzerte und geriet ins Visier der Behörden. Weil es an anspruchsvollen Grafiken mangelte, eröffnete er eine Untergrund-Druckwerkstatt. Zusammen mit Freunden erklomm er ohne Auftrag und Salär das Dach einer maroden Kirche und deckte es kurzerhand neu. Als in den Neunzigern sein angestammtes Stadtviertel zu „kippen" drohte, belegte er Ruine um Ruine, sanierte sie, überredete Bohemiens und Künstler zum Kommen und Bleiben. Heute ist die Hallenser Burgstraße wieder lebendig und kreativ.
In seinem Pioniergeist und seinem grenzenlosen Optimismus ist Moritz Götze ein Tatmensch, Vertreter einer Spezies, der man im 18. und 19. Jahrhundert häufig in Europa und später in Amerika begegnen konnte. Sein erstes künstlerisches Medium war der Siebdruck, ein Verfahren, das vor etwa einhundert Jahren in Kalifornien entwickelt und später durch die Pop Art nobilitiert wurde. In Ostdeutschland roch allein die Verwendung dieser Technik nach Rebellion und westlichem Gedankengut. Weil der Siebdruck sich auch zum Beschriften und zur Herstellung von Flugblättern bestens eignet (was neben der US Army im Zweiten Weltkrieg auch die Wehrmacht nutzte), war das Verfahren streng limitiert. Wie selbstverständlich gelang es Moritz Götze, die Limits zu unterlaufen. Er druckte die eigenen Grafiken, ebenso die für andere Künstler und war nach einigen Jahren ein ausgewiesener Spezialist dieser Technik.
1989 gelang den Ostdeutschen die erste erfolgreiche Revolution auf deutschem Boden. Die Kommunisten wurden entmachtet, die Grenzen öffneten sich und die Welt war wieder zugänglich! 1991 bis 1994 übernahm Moritz Götze einen Lehrauftrag an der Hochschule Burg Giebichenstein, Halle, 1994 wurde er als Gastprofessor für Serigraphie an die École nationale supérieure des beaux-arts nach Paris berufen.
Der Siebdruck war nicht der einzige Berührungspunkt Moritz Götzes mit der Pop Art. Sein Vater Wasja Götze zählte – neben Hans Ticha und Willy Wolff – zu den wenigen Pop-Künstlern Ostdeutschlands. Wasja Götze stand unter dem besonderen Eindruck des Schaffens von Richard Lindner, dem frühesten Vertreter der amerikanischen Pop Art, der 1901 in Hamburg geboren wurde, 1934 nach Paris ging, 1941 ins amerikanische Exil floh und 1978 in New York starb. Lindner wurde weniger bekannt als seine Kollegen Johns, Lichtenstein, Oldenburg, Rauschenberg, Rosenquist, Warhol und Wesselmann, obwohl er schon 1962 im MoMA gezeigt wurde, zweimal an der documenta teilnahm und seit 1972 Mitglied der American Academy of Arts and Letters war. Seine künstlerische Herkunft aus der Neuen Sachlichkeit teilte Lindner mit dem 1905 in Dresden geborenen Moritz Martin Willy Wolff, der 1930 Meisterschüler von Otto Dix wurde. War die Neue Sachlichkeit eine der Quellen der amerikanischen Pop Art und beide gemeinsam nicht unwesentlich für die künstlerische Entwicklung Moritz Götzes, blieb es nicht bei diesen Einflüssen. Götze wuchs in einem Haus mit einer opulenten historischen Bibliothek auf, und Mittelalter wie Neuzeit wurden vor seinen Augen in zahlreichen Illustrationen und Reproduktionen lebendig. Seine ersten bedeutenden grafischen Serien galten den Nibelungen und dem Prinzenraub von Altenburg (1991), sowie Tristan und Isolde (1993/94). Sie kombinierten die feine Ziselierung und die phantasievollen Dekore der mittelalterlichen Buch-und Miniaturmalerei mit der plakativen Flächenhaftigkeit und Strahlkraft des amerikanischen Pop, pflegen aber auch die Konzeptualität seiner britischen Spielart. Die verwendeten Primärfarben, die klaren Kompositionen und die statuarisch-appellative Formsprache suggerieren Simplizität, aber ausgefeilte Assoziationsketten und raffinierte Codes erzeugen gleichzeitig ausgesprochene Vielschichtigkeit und Tiefe. Adäquat entwickelten sich Zeichnung und Malerei. In den Folgejahren bis um die Jahrtausendwende wandte Götze sich Alltagsthemen zu, seine künstlerische Sprache wirkt in dieser Zeit kraftvoll und in sich ruhend. 1998 entstanden Acrylgemälde wie Nachts oder Die Entscheidung. Collage, Assemblage und Keramik bereicherten die Ausdrucksmöglichkeiten des jungen Künstlers. Seit 1990 wuchsen die Formate seiner Arbeiten. Die Siebdrucke wurden mehrteilig: The little Dog, 1995 gedruckt, besteht aus neun Teilen und misst 210 x 300 cm. 1995 bemalte Moritz Götze drei Prismenwände mit großformatigen Wandelbildern, die einem riesigen Comic gleich kurze Geschichten erzählten. 1994/95 entstand sein größtes Werk, die fünf Stockwerke umlaufenden keramischen Mosaiken im Lichthof des Leipziger Messehauses Speck's Hof, heute eine der wichtigsten Sehenswürdigkeiten der Stadt.
Wasja Götze hatte Emailschilder gesammelt, sein Sohn Moritz schuf sie kurzerhand selbst und bereicherte die 3500 Jahre alte Technik um etliche Neuerungen. In den Neunzigern entwarf er Reklametafeln für fiktive, nicht existierende Produkte wie Zigaretten der Marke Mono oder absurde Gegenstände wie eine Seewasserdose. Aus Email bestanden auch die großflächigen Wandgestaltungen, die er im Jahr 2000 fürs Berliner Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie und ein Jahr später für das Hallenser Arbeitsamt schuf.
Um die Jahrtausendwende wandte Götze sich verstärkt wieder politischen Themen zu. Er setzte Gegenwärtiges in historische Bezüge und machte anschaulich, dass Handlungsspielräume wie Handlungsschemata in Vergangenheit wie Gegenwart begrenzt sind und immer wieder ähnlichen Mustern folgen. Götze operierte mit Vor- und Rückblenden, um seine Sichtweise zu verdeutlichen. Verschiedene Zeitebenen treffen auf- und greifen reibungslos ineinander. Bevorzugt benutzte er Werke historischer Kollegen als Ausgangspunkt seiner Expeditionen durch die Epochen. Diesen Mix aus plakativer linear-gestischer Malerei, konzeptuellem Denken und historischem Empfinden nannte er „Deutscher Pop".
Götzes Ausgangspunkt für den „Deutschen Pop" war die Serie re:realismus, eine lustvolle Abrechnung mit der Ideologie und den Unterdrückungsmechanismen, unter denen er als junger Mann selbst zu leiden hatte. Sie setzt sich mit dem sozialistischen Realismus und dem Phänomen der „Ostalgie" auseinander. 2002 entstand Am Schaltpult. Nach Willi Sitte und im Jahr darauf Der Schachspieler. Nach Willi Neubert. Der erdige Grundton sozio-realistischer Malerei weicht der Farbigkeit des Pop, seine bierernsten Protagonisten gutgelauntem Personal.
Die zeitgleichen großformatigen Gemälde Wo die Sonne aufgeht und Der Durchmarsch gelten historischen Begebenheiten aus der Zeit der Reichseinigung und dem Status der deutschen Gesellschaft. Sie stehen für eine ganze Reihe weiterer Arbeiten und Serien, in denen Götze das Genre der seit über einem Jahrhundert als erledigt betrachteten Historienmalerei wieder aufleben ließ. Wichtige Referenz waren die Gemälde Anton von Werners, der die entscheidenden Episoden des deutsch-französischen Krieges von 1870/71 festhielt. Götze unterzog sie einer ähnlichen ironischen Neubetrachtung wie zuvor die Malerei des sozialistischen Realismus, verringerte ihren realistischen und erhöhte ihren Realitätsgehalt. Wobei von Werner deutsche Offiziere sich nach gewonnener Schlacht im eroberten französischen Palais unter den wohlwollenden Blicken der Dame des Hauses ans Piano setzen, wird bei Götze Rokokomobiliar im Kamin verheizt. Die aus etwa 700 Teilen bestehende Emailkomposition Victoria zeichnet ein Panorama der Moderne, durchzogen von geschichtlichen Rückblenden und Visionen künftigen Geschehens. Kristallisationspunkt der riesigen Arbeit ist das Attentat auf Franz Ferdinand, welches den Ersten Weltkrieg auslöste. In Götzes Wahrnehmung überlagert es sich mit dem Mord an John F. Kennedy, dem großen amerikanischen Trauma.
Zum Trauma des deutschen Kaiserreiches wurde das Ende seiner Flotte nach dem Ersten Weltkrieg. Nach Beendigung der Kampfhandlungen waren Schiffe und Besatzungen in Scapa Flow interniert. Als die Kapitäne ihre Pötte der Entente übergeben sollten, zogen sie kurzerhand die Stöpsel. Es entstand der weltgrößte Schiffsfriedhof. Das Thema ließ Götze nicht mehr los. Mit Unterstützung durch Bernd Kauffmann, den Generalbevollmächtigten der Stiftung Schloss Neuhardenberg, baute er das Desaster in schönster Pop-Manier schabloniert im Schlossteich nach. Bemalter Schablonen bediente Götze sich auch im Sommer 2010, als Berlin den zweihundertsten Todestag der populären Preußenkönigin Luise beging. Zu den meistfotografierten Objekten des Sommers zählte seine Arbeit Prinzessinnen Luise und Friederike, nach Johann Gottfried Schadow, die erst in Neuhardenberg und anschließend vorm Schloss Charlottenburg aufgestellt wurde.
Ein weiteres Genre, das Götze kurzerhand für den Deutschen Pop vereinnahmte, ist die Allegorienmalerei. Sie entstand schon in der Renaissance und erreichte im Zeitalter der verspielten Eleganz ihren Höhepunkt. Götze erschien die Allegorie unterm Unstern düsterer Vorahnungen. In seinem Gemälde Rokoko bricht ein Überschalljäger über eine vereiste Idylle herein und zerfetzt einen über den Himmel gespannten Schleier mit Chinoiserien, Rocaillen und Turmfrisuren. Im Zimmer verteidigt eine Gruppe Europäer in Kolonialtracht verzweifelt eine letzte Bastion und die Serie Peak Oil beschreibt das Ende des strategischen Bodenschatzes und zugleich der Welt. Eine Glanzstunde des Deutschen Pop bildete eine Aktion, die am 10. November 2009 auf der Wartburg stattfand. Zum 526. Geburtstag des Reformators rekonstruierte Götze gemeinsam mit Bazon Brock in der Lutherstube Martin Luthers berühmten Wurf mit dem Tintenfass. Nach der Legende soll der Reformator während seiner Arbeit an der Bibelübersetzung vom Teufel belästigt worden sein. Mit einem Tintenfass habe Luther nach dem Beelzebub geworfen und ihn damit verjagt. Als Zeichen dieser Gegenwehr sei an einer Wand der Lutherstube ein Tintenfleck verblieben, der über Jahrhunderte sichtbar war, aber heute fehlt. Götze und Brock warfen vom historischen Schreibpult aus mit Eisengallustinte gefüllte Glaskugeln auf Büttenkartons im Format DIN A0, auf denen Kleckse ähnlich dem historisch überlieferten entstanden. Die gleiche Technik wandte Götze später im Atelier an, bombardierte Leinwände mit den Tintenkugeln und bemalte sie gleichsam auf Luthers Spuren – mit gelangweilten Blondinen.
Anderthalb Jahrzehnte nach seinen ersten eigenen Emailmalereien hatte Götze die künstlerische Emailtechnik um neue Methoden des mehrschichtigen Auftrags, um die Kombination von Emailmalerei und Siebdruck und um die Verwendung papierner Farbträger bereichert. Aus der Industrie übernahm er das Verfahren, ganze Objekte wie Altäre, Schreine oder Bilderrahmen zu emaillieren. Seine nachhaltigste Neuerung ist die sich vielteilig über den Raum ausbreitende Emailkomposition. Basis seiner Experimente wurde das Muldenthal-Emaillierwerk Penig, welches ihm bis heute in Freischichten Kapazitäten zur Verfügung stellt.
Auf die Wandgestaltung im Berliner Wirtschaftsministerium folgten etliche große Emailfassaden für private Sammler. 2010 kam der Auftrag zur Gestaltung des Zentralfoyers der Leipziger Uniklinik. Ein eindrucksvoller Entwurf für die Fassade des Stasi-Museums in Berlin wurde leider nicht realisiert. Götze hattevorgesehen, die Mauerbänder der einzelnen Etagen mit stilisiertem Stacheldraht aus rotem Email zu überziehen. Eine wunderbare Gelegenheit, die künstlerischen Stärken des Mediums und zugleich des „Deutschen Pop" auszuspielen, ergab sich unerwartet von musealer Seite. Die Museen der Schloss- und Residenzstadt Greizbeauftragten den Künstler, die Sammlung durch Arbeiten zu ergänzen, die im Dialog mit der Geschichte und den historischen Ausstellungsobjekten stehen. Inhaltlich wie formell ein kompliziertes Unterfangen, denn es ging um die vermutlich verzwickteste Adelsdynastie, das Haus Reuß. Die Reußen hatten 1200, vermutlich um damit den Stauferkaiser Heinrich VI. zu ehren, festgelegt, dass sämtliche männlichen Nachfahren den Vornamen Heinrich trügen – woran sie sich bis heute halten. Die Familie spaltete sich vielfach und vereinigte sich nachdem Aussterben einzelner Linien wieder, so dass ihr Ländchen wie ein Flickenteppich mit immer neuen Grenzen, Burgen, Residenzen und Hauptstädtchen überzogen wurde. Die Geschichte der Reußen könnte von Kafka oder Asturias stammen. Götze mochte dieses Tohuwabohu außerordentlich. Er schuf für das Museum drei großformatige Gemälde, in denen wichtige historische Momente des Zwergstaates beleuchtet werden und drei interaktive Email-Skulpturen der Heinriche VI., XI. und XIII., die bei Berührung ihre Lebensgeschichte preisgeben.
Moritz Götzes aktuelle Herzensangelegenheit ist die künstlerische Ausgestaltung der Schlosskirche St. Aegidien in Bernburg. Die aus dem 12. Jahrhundert stammende romanische Kirche ist nur noch teilweise erhalten. Sie wurde seit dem 14. Jahrhundert mehrmals umgebaut, trägt eine barocke Fassade, während der Innenraum im 18., 19. und zuletzt im 20. Jahrhundert mehrfach überformt wurde. Das entstandene unglaubliche Stilgemisch ruft nach einer ästhetischen Klammer, und inzwischensieht es danach aus, dass Götzes Entwurf einer vielteiligen Emailgestaltung, der sich sowohl auf die Genesis wie auch aufs Neue Testament bezieht, zur Umsetzung kommt. Im Gegensatz zu den ebenso ambitionierten wie unbeholfenen Umbauten der letzten Jahrhunderte lässt diese elegante Lösung des jahrhundertealten Problems sich spurlos wieder entfernen. Die neuesten Leinwandarbeiten zeigen den Künstler selbst in historische Zusammenhänge verwickelt, von Schuttbergen flankiert und durch frivole Pin-ups aus seinem museumsdepotartigen Atelier verdrängt. Die Geschichte verwächst mit der Gegenwart und die Allegorie auf die Teilung, welche die absolutistischen Raubkriege des 18. Jahrhunderts thematisiert, illustriert das aktuelle Wirrwar einer Welt, die sich in Neuordnung befindet, sich ständig neu erfindet – so wie auch die Kunst Moritz Götzes. Wie alle Künstler von kunstgeschichtlicher Bedeutung stellt Götze sein Werk immer wieder auf den Prüfstand und setzt die gesellschaftlichen Veränderungen seiner Zeit ebenso ins Werk wie jene Stärken und Schwächen, mit denen die Menschen seit Anbeginn ihrer Existenz gesegnet und geschlagen sind.
Sieben Männer fahren im Boot. Im Wasser treiben Trümmer und Minen. Mit an Bord befinden sich ein Ölfaß, eine brennende Fackel und ein Fernsehgerät. Die See ist stürmisch, und die Wellen haben die Form von Rocaillen angenommen. Willkommen im Rokoko. Welcome to the 21st century.
Gern benutzt Moritz Götze die Metapher und den historischen Rahmen, um brennende Probleme seiner Zeit ins Bild zu fassen. Mit großer malerischer und zeichnerischer Virtuosität fügt er seine Visionen zu klaren Kompositionen. Ihre Bedeutungsebenen staffeln sich in fast grundlose Tiefen. Diese Gesichte tragen häufig das Gewand aristokratischer Nonchalance, werden aber auch deutlich, zuweilen drastisch.
2004/2005 malte Moritz Götze das Gemälde "Im Zimmer". Es zeigt eine Gruppe Europäer in Kolonialtracht, welche sich verzweifelt gegen einen unsichtbaren Gegner verteidigt. Auf der rechten Bildhälfte erscheinen über den Ruinen westlicher Zivilisationsgüter arabische Schriftzeichen. Sie beschreiben eine Rezeptur zur Herstellung der Explosivstoffmischung Al-Napht, welche in mittelalterlichen Seekriegen Anwendung fand. Den Aufruhr um einige Koran-Karikaturen und den anschließenden Sturm auf westliche Botschaften in arabischen Ländern nahm dieses Bild um ein Jahr voraus. Schon 1997 gelang dem Künstler eine düstere Prophezeiung, als er ein Flugzeug malte, welches in ein Hochhaus rast (abgebildet in: Moritz Götze, Station to Station, Leipzig 1997).
Als wichtiger Ausgangspunkt für die Rokoko-Serie dienten Götze die Memoiren des Giacomo Casanova (1725 - 1798). Sie zählen zu den wichtigsten kulturhistorischen Zeugnissen des 18. Jahrhunderts und enthalten die große wie die kleine Form, das historische Panorama und das Kavaliersstück. Ein solches ist auch die meisterhafte Zeichnung "Die Überraschung", welche sich auf einen anderen großen Abenteurer des Rokoko bezieht: Karl Friedrich Hieronymus Freiherr von Münchhausen (1720 - 1797). Schlüssel zu diesem Bild ist der 1943 gedrehte Film mit Hanns Albers in der Hauptrolle. Die Konversation mit dem körperlosen Damenkopf ist von dort entlehnt. Nun war Münchhausen - ebenso wie Casanova und ganz gegensätzlich zum soliden Familienmenschen Götze - ein großer Schlawiner und Verführer. Auf der Zeichnung befindet er sich in einem kommunikativen Dreieck zwischen der aus einem Blumentopf wachsenden Dame ohne Leib, einem begonnen Gespräch (Flirt?) am Telefon (treffend durch eine Textspirale dargestellt) und einer hereinkommenden jungen Frau in Kniestrümpfen und Sommerhut.
An der Wand befindet sich ein Moritz-Götze-Stilleben, gegenüber eine Collage aus einer vierzig Jahre alten Zeitschrift mit dem Foto einer Sitzenden, deren Haltung jener Münchhausens vollkommen gleicht. Der Teppich ist bedeckt mit Mustern, Zeichnungen, einer umgeworfenen Gießkanne nebst Pfütze und - Gefahr für die Blumentopffrau - einer Gartenschere. Das Gesicht im Fernseher beobachtet die Szenerie, die Antenne verheißt Alpha und Omega, Anfang und Ende. Die Hintergrund-Tapete spielt Szenen aus dem großen Leben, Liebe, Tod, Religion, Öl und Geld, und die geöffnete Tür führt definitiv ins Nichts. Götzes Auffassung vom Leben und der Kunst deckt sich mit der des Rokoko insofern, als in jenem silbernen Zeitalter selbst die schwersten Themen mit spielerischer Leichtigkeit, aber auch illusionsloser Klarheit und Tiefe betrachtet wurden.
Moritz Götzes ludibunder Ernst erweckt großes Interesse, nicht nur der Sammler, sondern auch bei den Museen. Dieses Jahr wird er im germanischen Nationalmuseum in Nürnberg präsent sein; 2007 richtet ihm das Saarland-Museum Saarbrücken eine Soloschau aus und 2009 widmen ihm gleich zwei große Häuser Personalausstellungen.
Erinnerte Geschichte entfaltet subversive Kräfte - gerade in Zeiten regierender Tabus. Moritz Götze, Jahrgang 1964, aufgewachsen in Halle, einer in der DDR durch Massenindustrien und Mangelwirtschaft zur "grauen Diva" (Helga Paris) mutierten Bürgerstadt mit großer Kunsttradition, hat diese Lektion historischer Vergegenwärtigung früh erahnen und erleben müssen. Der begabte Sohn des Künstlerehepaares Inge und Wasja Götze ging schon während der Schulzeit auf Distanz zum so genannten Arbeiter-und-Bauern-Staat, welcher in grotesken Geschichtsklitterungen den Gang der Jahrhunderte zur Vorgeschichte der eigenen Machtentfaltung reduzierte. So galt in der bald schon verkleinbürgerlichten DDR die nationale und regionale Historie weithin als kontaminiertes Gelände. Wer sich in ihr bewegte, begab sich in akute Gefahr; schon wenn er, wie der junge Götze, die dinglichen Artefakte aus Kaiserreich, Nazizeit und sowjetischer Besatzungsmacht aus Abrisshäusern, Haushaltsauflösungen und Antiquariaten zunächst noch in unbestimmter Absicht zusammentrug. Selbst das Sammeln der eigenen Zeitungen, etwa des SED-Zentralorgans "Neues Deutschland", galt in einer ganz der Zukunft verschworenen Gesellschaft als Feindeswerk, da die archivierte Meinung eine Vergleichsperspektive eröffnete, die dem "Tugendterror" der Funktionäre im Wege stand.
Das Faible für den "historischen Sondermüll" - und vor allem die expansive Liebe zu jener nicht im staatssozialistischen Bildungskanon verankerten historischen Literatur wie etwa die zu dem von Adolf Bär und Paul Quensel 1890 herausgegebenen Kompendium "Bildersaal Deutscher Geschichte" - machte den neben seiner Tischlerlehre als Punkmusiker wirkenden Moritz Götze in den Augen des omnipotenten Staates zum suspekten Element. Die Bezirksverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit unterstellte Götze waghalsige Fluchtideen, da er bereits im Alter von 20 Jahren einen Ausreiseantrag in den Westen gestellt hatte und seitdem mit einem so genannten "PM 12", einem Stigma symbolisierenden Ersatzausweis, ausgestattet war. "Die vorliegenden Informationen lassen die Wertung zu", so ein Zitat aus dem hinterlassenen Aktenkorb, "dass der im OV [Operativer Vorgang] bearbeitete Übersiedlungsersuchende glaubhaft beabsichtigt, die DDR ungesetzlich zu verlassen und zu diesem Zweck ein Fluggerät zu bauen. Entsprechende Literatur kann M. [Moritz Götze] bereits besitzen."1 Um die Flucht zu verhindern (welche der Künstler nie geplant hatte), schickte die Stasi ihre inoffiziellen Mitarbeiter in die wissenschaftlichen Bibliotheken der Universität, um in vorauseilender Selektion in Ausleihkarten und Regalen nach jener Literatur zu suchen, die dem jungen Künstler bei diesem Plan hätte behilflich gewesen sein können.
Es brauchte keinen Heißluftballon, damit Moritz Götze schließlich als Maler und Graphiker im "anderen Deutschland" ankam und zu einem der bemerkenswertesten Künstler seiner gesamtdeutschen Generation wurde. Er musste, Glück der späten Geburt, dafür weder in die innere Emigration noch in das äußere Exil ausweichen. Moritz Götze erlebte die deutsche Wiedervereinigung unter "Deutschlands Himmel" - so der Titel eines frühen Siebdruckes - indem er einfach blieb wo er war und wo er im Verständnis eines großen Publikums auch hingehört - in Halle/Saale, Ortsteil Kröllwitz, mittendrin im Kunstquartier um die Burg Giebichenstein, umgeben mit Mauern vollgesogener Geschichte. Aus der bleiernen Zeit angehaltener Nachkriegsuhren wurde der nach 1990 schnell überregional bekannt werdende Künstler selbst Zeuge und Medium eines historischen Prozesses. Diese Rolle übernahm er ohne Bitterkeiten, Neidkomplexe und Berührungsängste; ihm fehlt so gänzlich jene exemplarische Mentalitätsmischung, mit der viele seiner Kollegen aus dem Osten dem westlichen Kunstbetrieb auf glücklose Weise gegenübertreten.
Das Leben als professioneller Künstler begann für Moritz Götze hingegen mit allen Glücksmomenten entfesselter Freiheit - mit weitgesteckten Reisen, einer Gastprofessur in Paris und ersten Erfolgen auf Kunstmessen. Bald schon beobachtete er aber auch die Eintrübungen sozialer Deklassierung, die gerade in einer durch den Wegfall ganzer Industrien geprägten Region wie der um seine Heimatstadt auf sehr unmittelbare Weise den städtischen Alltag bestimmten. Mit dieser sozialen Misere begann - nach den anfangs auch in Halle eskalierenden Debatten um Schuld, Verstrickung und Stasi-Tatbestände - erneut ein Zeitalter historischer Entsorgung und perspektivischer Verzerrung. Dies traf auf die Relikte staatssozialistischer Ästhetik zu, welche nun (Jahre bevor sie selbst wieder zu kultigen Erinnerungsstücken werden sollten) massenhaft aus Wohnungen und Amtsstuben auf die Strassen flogen und Platz machten für das nicht ideologieverdächtige Lebensmobiliar aus Discountern und Billigkaufhäusern. Aber der Furor eines Schlussstriches betraf ebenso - und das musste einen mit historischer Bildung beschlagenen Künstler zum Widerspruch reizen - die bereits in der DDR tabuisierten Geschichtsverläufe des deutschen Sonderweges.
Erinnern wir uns: Deutschland war, wenn schon als nationale Größe wiedererwacht, als historischer Tiefenstoff nach 1990 nicht wirklich ein Thema der political correctness. Sei es aus Ängstlichkeit vor der vermeintlichen Weltmeinung, sei es aus blockierten Nationalgefühlen: Weder die Historienmalerei eines Anton von Werner, der 1993 in einer (von Moritz Götze als Initialerlebnis wahr genommenen) Ausstellung im Deutschen Historischen Museum in Berlin wieder entdeckt hätte werden können, noch die Parallelgeschichten von Normierung, Zwang und repressiver Gewalt, die es, bei all ihrer qualitativen Unvergleichlichkeit, in beiden deutschen Diktaturen gegeben hatte, taugten als beiderseits der Elbe interessierende Themen nationalstaatlicher Versöhnung. In diese Art von Geschichtstabuisierung passte ins Bild, dass die alten Kulturlandschaften Mitteldeutschlands nun den Titel "neue Bundesländer" führen sollten, gleich als ob der Naumburger Dom, das Erbe der Weimarer Klassik oder das "Grüne Gewölbe" August des Starken nicht immer schon zum identitätsprägenden Kernbestand des "alten Deutschland" gehört hatten.
Moritz Götze war durch seine Eigen-Geschichte für solche Szenarien, die eine Geschichte je nach Interessenlage und Politikstil in konsumierbare Häppchen zerlegten, immunisiert. Stattdessen spürte er überall die Kontinuität in den Brüchen deutscher Historie - Verhängnisvolles kam da zum Vorschein, wie beim Blick auf die scheinbar unauflösbaren Dilemmata politischer Selbstentmündigung, aber auch Stolz auf das spezifische Leistungsprofil einer Kulturnation, dass sich etwa im jüngsten internationalen Erfolg einer auf das Deutsche in der Kunst fixierten Malerei zeigte. In Götzes Bildwelten durchmischten sich folgerichtig historisches Material und die gegenläufigen Deutungsinteressen. Das begann bereits Anfang der 90er Jahre, als er deutsche Mythen und Sagen in graphische Serien umsetzte - wie "Tristan und Isolde" (1994) oder "Nibelungenlied" (1991). Es setzte sich fort in Gemälden, welche die jüngere Kriegs- und Besatzungsgeschichte zum Thema machten -von den Acrylbildern des "Panzerkreuzer Scharnhorst" (1989) bis hin zum großformatigen Gemälde "Bjelomorkanal" (1994), dass auf die sowjetischen Besatzer anspielt. Nicht zuletzt manifestierte sich dieses Prinzip des Zugriffs auf die deutsche Geschichte in den Bild-Adaptionen von populären Werken sozialistischer Staatskünstler, welche ja selbst als die Historienmaler des kommunistischen Zeitalters angetreten waren. So hat Moritz Götze Willi Sittes Schlüsselbild "Chemierarbeiter am Schaltpult" (1968) zu einem hintersinnige Remake ["Am Schaltpult (nach Willi Sitte", 2002) verarbeitete, in dem die Hybris des DDR-Projektes in feinsinniger, an den Mitteln der englischen Pop art geschulten Denk- und Malweise ihre personale Verkörperung findet.
Wenn Moritz Götze sich nun im Saarlandmuseum nationalen Mythen nähert - auch wenn dies in gebrochener Weise geschieht, in der Form einer Auseinandersetzung mit dem Bildpersonal des Staatsmalers Anton von Werner -, dann scheint er sich auf den ersten Blick in einen gesellschaftlichen Trend einzureihen. Spätestens seit der letzten Fußballweltmeisterschaft sucht ein neudeutscher Patriotismus nach kultureller Verstetigung. Pop-Bands binden die Deutschland-Fahne in ihre Bühnenshows ein und Medienkampagnen wie "Du bist Deutschland" demonstrieren den Schulterschluss zwischen nationalen Heroen und den Nachgeborenen. Jener "neue Nationalismus" - in seinen bedenklichen Facetten geprägt durch eine verdeckte Schlussstrich-Debatte und die Relativierungen deutscher Kriegsschuld - hat mit Moritz Götze indes nichts zu tun. Auch wenn seine Formensprache sich der Popkultur öffnet, geht sie nicht in inhaltlichen Simplifizierungen und populistischen Formensprachen auf. Götzes Adaptionen der wilhelminischen Repräsentationsästhetik - allen voran die sich ins Bildgedächtnis der Deutschen eingebrannte "Victoria" - bleiben ein spezifisch deutscher Pop, der weder die Ambivalenzen nationaler Realgeschichte leugnet noch in der alles homogenisierenden Globalisierungsfalle zappelt. Signifikant ist dafür seine für Saarbrücken entworfene Installation. Emailleblech und Stahlgewitter: Aus drei Tonnen dünn gewalztem Stahlblech ist ein historistisches Patchwork deutscher Geschichte mittels 100 bildtragenden Einzeltafeln entstanden - gleichsam ein Sinnbild nachmoderner Geschichtsbefragung aus dem Geiste pathosfreier Ironie, in denen die germanische Siegesgöttin nicht mehr den Lorbeerkranz, sondern das Euro-Emblem sieghaft nach oben streckt.
Wer in das Atelier von Moritz Götze in der Hallenser Talstraße tritt, sieht im Foyer eine in das Mauerwerk nachträglich eingefügte zweiflüglige Tür. Durch diese trat von 1908 bis 1919 Max Sauerlandt, der legendäre, später nach Hamburg wechselnde Museumsdirektor und einflussreicher Mentor des deutschen Expressionismus in sein Büro in der Hallenser Moritzburg. Bei der kürzlich begonnenen Sanierung des heutigen Landeskunstmuseums war diese auf dem Schutt gelandet. Bis Götze die Direktorentüre entdeckte und abfahren ließ. Das Schlimmste daran, so Moritz Götze, sei für ihn gewesen, dass niemand im Museum "mit dieser Aktion überhaupt einen Verlust empfand."
1 BStU-Ast. Halle, OV "Max", Reg.-Nr. VIII/146/84, Protokoll zur Absprache OV "Max" der Abtlg. XX v. 15.11.1984, Bl. 23ff.