Richard E. Müller
Interview mit Nguyen Xuan Huy
2019


REM: In deiner Arbeit, seit deinem Studiumabschluss bis heute, sieht man Entwicklungsphasen oder auch sprunghafte Änderungen, sowohl im Stil als auch in der Thematik. Angefangen hast du mit fotorealistischen Bildern, die mehr oder weniger auf Dokumentarfotos basieren. Diese wurden abgelöst von Motiven mißgebildeter Frauengestalten vor leerem Hintergrund und jetzt wird konventionell in allen Ecken ausgemalt, kaum noch Spuren von politischen Symbolen. Wie erklärst du dir diese Veränderungen, wie siehst du das selbst?

NXH: Hm. Meine Muse ist launisch. Ich habe wenig Einfluss drauf. Ich meine, die Ideen kommen oft genug aus heiterem Himmel. Ich setzte mich nicht etwa vor die Leinwand und sage mir, nun male ich ein Bild zum Thema, was weiß ich, „Krieg und Frieden“ und buchstabiere dann das Thema durch. So funktioniert das nicht bei mir. Die „Verkündung“ taucht oft genug blitzartig in meinem Kopf auf und dann, dann warte ich. Ich lasse die Eingebung erst einmal wirken, denn sie kann auch verführen, täuschen. Und wenn man das erst später, beim Malen merkt, ist es zu spät. Ich warte, ich lasse es wirken und die Intuition nimmt die Spur auf — alles andere folgt. Aber es läuft nicht immer glatt. Die Muse streikt ab und zu, ohne sie ist mein Kopf für die Kunst ein Taugenichts. So kommt es zu Seitensprüngen. Entweder weil das Interesse am Thema erschöpft ist und ich das Gefühl habe dass ich nur noch mich selbst kopiere oder weil meine Muse mich befeuert, weiter und in neue Gebiete einzufallen.

REM: Du mystifizierst deinen Arbeitsprozess gerne, oder?

NXH: Ja, zu gerne, meine Lieblingsversion.

REM: Es gibt also noch andere Versionen? Eine konkretere und weniger mystifizierte vielleicht? Am Anfang ließen deine Werke deine Herkunft gut erkennen, jetzt aber kaum noch. Hat das mit deiner Biografie zu tun? Du hast ja jetzt schon mehr als die Hälfte deines Lebens in Deutschland verbracht. Es hat sicherlich eine gewisse Wirkung auf deine Arbeit?

NXH:  Ja, es geht in meiner Kunst immer um mich, um mich allein! Nach mir die Sintflut! (lacht). Ich bin mein eigenes Versuchskaninchen und die Grundfrage des Experiments: Wie ist es, ein Mensch zu sein.  Aber ohne die ganze Welt drumherum gibt es da kein „ich“. Also muss ich mich doch mehr oder weniger mit der ganzen Welt beschäftigen. Und es gibt da diese monumentalen, klassischen Fragen nach dem Sinn des Ganzen - was machen wir Menschen? Wo führt das alles hin? Und diese Grundfragen, sie scheinen mir nie befriedigend genug beantwortet zu sein. Und wenn man ein Atheist ist, gibt es nun mal noch viel mehr Fragen und noch mehr offene Antworten.

Als ich frisch in Deutschland ankam, war ich mir meiner Herkunft bewusster denn je. Ich bekam ja plötzlich das Attribut „Ausländer“ um den Hals gehängt. Alle fragten, woher ich komme und das erste, was ihnen zu meiner Heimat einfiel, war oft der Vietnamkrieg. Ich fing an, mich intensiver mit diesem Teil meiner Identität zu beschäftigen. Nicht, dass ich vorher nicht mal darin gestöbert hatte, aber dieses „Ausländersein“ intensiviert die Fragen nach Identität und der eigenen Geschichte.

Was früher eher verschwommen war, bekam nach und nach deutliche Konturen. Mir fiel ein, was meine Eltern mir erzählt hatten: mein Vater im Krieg, ein verletzter Soldat, der meine Mutter als Krankenschwester im Lazarett kennenlernt. Ergebnis: Wenn es den Krieg nicht gegeben hätte, gäbe es mich wahrscheinlich auch nicht. Meine Existenz und dieser Krieg hängen direkt zusammen. Mein Vater hat mir auch erzählt, wie glücklich er war, als ich zur Welt kam und alle meine Körperteile so aussahen, wie es die Standardanatomie vorschrieb. Denn im Krieg war er als Soldat in Gebieten unterwegs, wo Agent Orange verstreut wurde. Manche seiner Kameraden hatten nicht das Glück, gesunde Kinder zur Welt zu bringen. Das schockiert mich am meisten. Wenn ich die Opfer von Agent Orange ansehe, denke ich: Verdammt! Mir hätte das auch passieren können. Es ist schwer zu beschreiben, wie ich mich da fühle. Mir ist, als ob ich keinen Boden mehr unter meinen Füßen hätte — die unversehrte Existenz, ein biologischer Zufall im Lotto des Krieges, der nicht aufhören kann. Sicherlich kann ich mich damit beruhigen, dass ich heil davongekommen bin. Aber es ist alles andere als selbstverständlich.

Ich bin ein Jahr nach dem Krieg geboren und im Frieden aufgewachsen, aber mein Dasein wurzelt in diesem Krieg. Dieser Krieg war vorbei und ging doch auf biologischer Ebene weiter, Agent Orange immer noch im Einsatz. Für mich schlimmer als der Tod, eine neue Dimension des Grauens. Leid und Tod im Krieg gab es eh und je, aber Gendefekte, Generationen später, für die, die nichts damit zu tun hatten, noch nicht einmal geboren waren! Eine grausige Erfindung, um das Meisterwerk der Schöpfung noch spektakulärer zu verstümmeln.

Der Vietnamkrieg bedeutete für mich persönlich eine Geburtsstunde, damit fing die Reise an. In meinen Arbeiten zeigte ich damals keine Kampfszenen, nur die Stille danach. Ich benutzte oft Dokumentarfotos, als eine Brücke zur Realität. Man braucht schließlich Geburtsurkunden, um nachweisen zu können, dass man tatsächlich da ist.

Der Geburt folgt das Aufwachsen, die Erziehung, damit du bloß ein „soziales Wesen“ wirst und kein „Tier“. Oder „Gott“ (lacht). Ich bin in einem sozialistischen Land aufgewachsen und dort zur Schule gegangen. Das Schulwesen war ein treuer Handlanger der Propagandamaschine, der kommunistischen Partei. Das Volk soll erzogen werden, da fängt man am besten mit Kindern an. Bei mir hat es damals funktioniert. Bereits im zarten Alter war ich ein überzeugter Kommunist und ein glühender Patriot, mit einem sehr naiven Weltbild von Gut und Böse. Erst in Deutschland hatte ich die Gelegenheit, all das mit anderen Augen zu sehen. Diese ideologische Zurichtung, eine eigene Züchtung, hat für mich in gewisser Hinsicht Parallelen zu Agent Orange — das eine bringt körperliche, das andere geistige Mißbildungen hervor. So kam ich auf die Idee, beides in meinen Bildern zu kombinieren. Ich wollte ein fiktive Welt ausmalen, wo Träume und oder Alpträume Tatsachen werden, wahr sind. Träume zeugen Ideale und umgekehrt, die Praxis brütet Alpträume aus. Beim diesem Transfer zwischen Ideal und Praxis gerät etwas außer Kontrolle, Grenzen, Nebenwirkungen geraden durcheinander, werden verwischt und dann — tja, dann.

REM: Träume? Wer träumt denn so was?

NXH:  Große Tiere. Aber so groß sind die dann auch nicht. Auch ich träumte als Kind davon, die Welt nach meinen Vorstellung umzukrempeln, notfalls mit Gewalt. Meine Idole waren Typen wie Dschingis Khan, Alexander der Große, Napoleon ...Mao Zedong, Ho Chi Minh - die Ahnenreihe großer Tiere.

REM: Na so was. Und diesen Traum hast du aufgegeben? Man sieht ja, dass du doch kein Möchtegern-Welteroberer geworden bist. Oder glaubst du etwa, mit deiner Kunst die Welt erobern und verändern zu können?

NXH:  Ich habe keine Lust, über Leichen zu gehen! Als Kind sah ich nur die eine Seite der Medaille. Über den Vietnamkrieg beispielsweise sollte ich nur wissen, wie heldenhaft die Vietnamesen gegen die ausländischen Aggressoren gekämpft hatten. Hohe Verluste unterstrichen nur das Heldenhafte des Sieges. Jetzt erspare ich der Menschheit lieber einen Held mehr. Ich mache das, was keinem weh tut. Was meine Kunst angeht, verfolge ich keine Absichten. Es gibt da außer Eitelkeit vor allem das nackte Bedürfnis, etwas zu malen, etwas sichtbar zu machen, etwas in Bilder zu fassen. Wozu es darüberhinaus gut ist, das weiß ich nicht.

Mit aller Vorsicht würde ich nur sagen: Wenn meine Malerei tatsächlich zu etwas taugt, dann vielleicht als ein Ergänzungsangebot zum „Bildnis der Menschheit“. Was an sich nichts Neues ist und zugleich doch ein krasser Anspruch, aber davon kann man aus meiner Sicht nie genug reden, eine Sisyphusarbeit. Aber diese großen Theorien, die helfen mir nicht beim Malen, eher Kleinigkeiten: der Geruch der Ölfarbe, die leere Leinwand, die Sinnlichkeit des Mediums. Diese Tätigkeit, das Malen, kommt mir manchmal vor wie eine Weltflucht. Und doch gibt es sie nicht, keine Zuflucht, dem In-der-Welt-Sein entkomme ich nicht, nirgendwo entkomme ich der Realität.

REM: Realität? Deine aktuellen, surreal wirkenden Arbeiten scheinen ja eher der Realität zu entsagen. Wo liegt dein Bezug zur Realität?

NXH:  Eine philosophische Auseinandersetzung mit der Frage, was Realität ist, würde ich lieber nicht eingehen, schon versucht, ein weites Feld ist das! Ich bin jedoch überzeugt, dass meine Bilderwelt gar nicht so weltfremd oder surreal ist, wie sie scheint. Die Bilder sind nur etwas anders angeordnet, verwirrter vielleicht, die Alltagslogik durcheinander, der Fokus verschoben, um den Sinn des Ganzen zu sezieren - aber ein Meisterchirurg bin ich nicht. Eher komme ich mir manchmal wie ein Trottel vor, einer, der von allem Notiz nimmt, was ihm wichtig vorkommt, aber nicht in der Lage ist, das Puzzle zusammenzusetzen — er sieht die Teile, erkennt aber das Ordnungssystem nicht. Ich denke an dies, an das, aber mein Denken hat kein System, das zu systematischen Ergebnissen führt. Das Hauptergebnis ist wohl das Scheitern des vermessenen Versuchs, ein klares, übersichtliches Weltbild zu schaffen.

Und die Mythologie — so überirdisch sie sein mag, sie drückt doch schließlich menschliche Gedanken, Gefühle aus. Ich male auch nur Menschen, keine Aliens. Meine Bilder sehen oft wie Szenen aus verdrehten Träumen aus. Ich bin in der Tat ein fleißiger Träumer, und viele meiner Träume übertreffen alle surrealistischen Geschichten, die ich kenne. Aber genau genommen sind es ja bloß meine Erfahrungen im wirklichen Leben, im Schlaf durcheinandergeraten und nach einer anderen Ordnung miteinander verknüpft. Das Ergebnis ist oft verwirrend, rätselhaft oder einfach sinnlos. Aber all das gehört zu einem Komplex, in dem das Reale und das Irreale, der Sinn und der Unsinn ineinander verwoben und gleichberechtigt sind. Der Traum als ein Widerstand, der eine einfache Erklärung der Welt ablehnt, zweifelt, sie umformt. Die Fetzen der Realitäten suchen nach ihrer Bedeutung, die es vielleicht gar nicht gibt, aber entscheidend ist das nicht. Die Suche an sich ist die Hauptattraktion! Denn letztendlich ist nicht eine plausible, einleuchtende Geschichte zu erwarten, sondern ein Ausdruck dessen, wie der Verstand im Dunkel tappt, über Steine stolpert und flucht: Verdammt! Wo bleibt mein Reiseführer! (Lacht)

REM: Und wie würdest du diese Phase bezeichnen, wenn du vorher von Geburt, Aufwachsen und Erziehung gesprochen hast?

NXH:  Aufklärung.

REM: Aufklärung? Sie sieht bei dir aber düster aus!

NXH:  Das kann sein, aber ein Pessimist bin ich nicht. Eher ein Realist. Ich versuche es jedenfalls. Ich möchte keine Apokalypse prophezeien, doch wer sagt, dass jenseits der Illusionen ein Paradies auf dich wartet?

Ich bin kein Fan von Apokalypse oder Ähnlichem. Aber ich stelle mir oft vor: Eines Morgens wache ich wie Gregor Samsa auf und stelle fest, das ich mich „zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt“ habe. Aber ein Ungeziefer muss es nicht mal zwingend sein . Da gibt es ja so viele Möglichkeiten. Wer gibt mir schon die Zuversicht, dass mir so etwas nicht passieren kann? Oder uns allen? Oder, dass es nicht schon längst stattgefunden hat? Harry Potter sicher nicht.

REM: Es riecht eher nach Verzweiflung als nach Aufklärung.

NXH:  Ja, da sind schon einige Stolpersteine, in verschiedener Größe, auf diesem Weg zur Aufklärung. Verzweiflung gehört dazu, Größe: XXXL. Daher sollte ich auch eher von einem Aufklärungsversuch sprechen. Das ist treffender. Das Ziel bleibt eine Fata Morgana, man kommt nie an. Ich jedenfalls nicht. Aber ich gebe mir Mühe, Sysiphus zuliebe.

REM: Nun, diese Version deiner Schaffengsperioden klingt plausibel, zu schön, um wahr zu sein - alles vorher durchdacht und über Jahre erarbeitet?

NXH:  Nein, sicher nicht. Ich weiß nie, was ich als Nächstes tun werde. „Wege entstehen dadurch, dass wir sie gehen“. Und erst dann fragst du dich, was das war. Intuition ist mir beim Malen das A und O, irgendwann meldet sich jedoch der Kontrolleur. Aber ich würde das Bauchgefühl nicht vom Verstand trennen. Vielleicht gibt es so eine Grenze gar nicht und das eine ist ein Effekt des anderen.

 
DAS EWIG WEIBLICHE

REM: Der Frauenakt ist in deinen früheren Arbeiten sehr präsent. Warum?

NXH:  Oh, das weiß ich nicht so genau. Es ist mir selbst ein Rätsel. Wirklich, ohne Scheiß. Ich frage mich schon öfter, warum ich kaum Verlangen danach habe, beispielsweise ein Landschaftsbild oder etwas in der Art zu malen. Natürlich habe ich schon alles Mögliche  versucht, aber es wollte und wollte nicht gelingen. Das „ewig Weibliche“ hingegen…Ja und nicht zuletzt, ich habe eine Schwäche für Sinnlichkeit, mag es eine Sünde sein, ich kann die Finger nicht davon lassen (lacht).

REM: Meinst du „das ewig Weibliche zieht uns hinan“ oder „hinab“, denn deine Werke scheinen nicht nach „Höherem“ zu streben?

NXH:  Es geht mir gar nicht darum, in welcher Richtung das Männliche sich bewegt (lacht). Vermutlich eher darum eine „Gegenspielerin“ zu haben. Ohne sie kann ich das Spiel nicht anfangen. Sie ist meine essentielle Verbindung mit dieser Welt, wie Schwerkraft. Ohne sie würde ich ziellos herumschweben oder wäre selbstgenügsam wie ein Gott (lacht).

Die meisten Frauenfiguren in meinen Bildern sind für mich keine real existierenden Personen, sondern Trugbilder. Oder vielleicht eine Armee von Avataren meiner Anima auf dem Schlachtfeld eines Selbstgespräches. In der vietnamesischen Poesie Anfang des 20. Jahrhundert haben die Dichter oft mit einer imaginären Geliebten geplaudert, um ihr eigenes Unbehagen zum Ausdruck zu bringen. Diese Geliebte gab es in der Wirklichkeit nicht, sie wurde erfunden, damit der Dichter einen Anlass hat, sich zu äußern. Diese Figuren in meinen Bildern haben vielleicht eine ähnliche Funktion.

REM: Deine Avatare?

NXH:  Ehm… ja!

REM: Das Wort „Avatar“ kommt ja aus dem Sanskrit und bedeutet „Abstieg“, was sich auf das Herabsteigen einer Gottheit in irdische Sphären bezieht.

H: Oh, das wußte ich nicht.

REM: Sind wir da nicht wieder mittendrin in deiner „privaten Mythologie“?

NXH:  Ich kenne das Wort nur im Zusammenhang mit der virtuellen Welt. Die Frauenfiguren in meinen Bildern erinnern mich oft an eine Art Nymphen. Sie bevölkern diese merkwürdige Idylle, deshalb sind sie wohl oft so „losgelöst“. Sie sind nackt, aber nicht im Sinne der Entblößung, sondern im Sinne eines Naturzustandes oder im Sinne der Unschuld. Ja, und die Heiterkeit nicht zu vergessen! Wenn sie so unschuldig sind, können sie auch, ab und zu, glücklich sein.

REM: Stimmt: Merkwürdige Schönheiten schweifen umher, führen Tänze auf, jagen Wild. Eine heile Welt ist es allerdings nicht.

NXH:  Nein, wohl nicht. Meine Lieblingsdramaturgie geht so: Meine Protagonisten sind wie in eine entfremdete Welt geraten, quasi in einen falschen Film. Sie wissen nicht, was mit ihnen geschieht oder was sie gerade tun. Sie können es nicht wissen oder wollen es nicht. Ich stehe ihnen zur Seite und gebe mir Mühe, ihnen trotz allem eine schöne heile Welt zu schaffen, zu malen. Aber das Ergebnis ist nicht wie erwartet, da gewisse Mächte wirken, die guten Absichten sind sabotiert. Etwas läuft schief — der Idealismus bekommt eine Ohrfeige verpasst.

REM:  Und wie erträgst du selbst diese Ohrfeige?

NXH:  Mit einer gewissen Ironie am liebsten. Was kann man sonst tun? Wenn Bilder Pathos produzieren, kann ich es nicht ertragen, also grinse ich dem Pathos ins Gesicht. So funktioniert es am besten, wenn es fehl am Platz ist.


OST UND WEST

REM: Viele deiner Bilder beziehen sich auf bekannte, ikonische Werke der Kunstgeschichte — der westlichen Kunstgeschichte, um es genauer zu sagen. Warum? Hat hier dein Studium und dein Leben in Deutschland und Europa Spuren hinterlassen?

NXH:  Ein kalkuliertes Konzept steckt nicht dahinter. Wenn ich in Vietnam geblieben wäre, hätte ich diesbezüglich vielleicht auch das Gleiche getan. Ich war bereits als Kind in Vietnam sehr an der westlichen Malerei interessiert. Viel mehr als am Holzschnitt oder der Tuschmalerei oder der Lackmalerei, was das Angebot der heimischen Traditionen gewesen wäre. Frage mich nicht warum! Vielleicht wegen der realistischen und sinnlichen Darstellung des menschlichen Körpers, was in der östlichen Tradition eher nicht erwünscht war.

So kam es, dass westliche Ikonen der Malerei auch damals schon zu meinen Ikonen wurden. Damals hatte ich den großen Wunsch, wie europäische alte Meister malen zu können. Ich sah keinen Grund, warum ich als Asiate nicht genau wie ein westlicher Künstler hätte malen sollen. Was für mich persönlich gut ist, ist gut, egal ob es horizontal von Ost oder West oder gar senkrecht von den Aliens daher kommt. Sonst müsste ich ja eventuell in die „Wiege der Menschheit“, ins uralte Afrika zurückkehren, um meine „wahre“ Ur-Identität bloß nicht von fremdem Einfluß verderben zu lassen.

Als Jugendlicher habe ich bereits einige Bilder der alten europäischen Meister kopiert, um zu lernen, obwohl ich damals nur schlechte Abbildungen davon zur Verfügung hatte. Sie inspirieren mich bis heute immer noch. Ich betrachte sie noch heute ab und zu wieder und gerate oft ins Träumen, wie ein verrücktes Kopiergerät, das etwas ganz anderes ausspuckt, als es eben eingescannt hat. Ich weiß nicht, wer der Hersteller ist, ich kann nicht reklamieren (lacht).

REM: Siehst du dich selbst nach all den Jahren als einen vietnamesischen Künstler oder als einen deutschen?

NXH:  Sowohl als auch. Oder besser gesagt: Es ist mir ziemlich egal. Am Anfang habe ich mich häufig mit Fragen meiner Identität beschäftigt, irgendwann habe ich es hinter mir gelassen. Es ist für mich einfach nicht mehr wichtig. Mich interessiert die Gattung Mensch, die Humangeographie ist nicht mein Fachgebiet, die Geburtsurkunden nicht mein Amtsbereich. Der Vogel — oder der, der einen Vogel im Kopf hat (lacht) —  missachtet alle politischen Grenzen, der braucht kein Visum oder Abstammungspapiere. Er landet dort, wo er sich wohl fühlt.

Sparkassengalerie: Die Opfer von Agent Orange

Auch heute noch, 40 Jahre nach Ende des Kriegs gegen die USA, kommen in Vietnam hunderttausende Kinder missgebildet zur Welt. Es kann jede Familie treffen. Der Giftstoff Dioxin im „Agent Orange“, dem Entlaubungsmittel, das die USA damals großflächig über das Land versprüht hatte, veränderte das Erbgut vieler Menschen. Es hätte auch den Maler Nguyen Xuan Huy treffen können oder seinen Sohn, obwohl der Vater schon lange in Deutschland lebt.

Sohn Tony ist gesund, aber die Angst, ein missgebildetes Kind zu bekommen, blieb. Sie ist Teil von Nguyen Xuan Huys Identität und sie ist auch in seinen Bildern spürbar, die ab 27. Januar in der Sparkassengalerie zu sehen sind. Es sind extreme Bilder, viele nichts für schwache Nerven.

Nguyen Xuan Huy wurde 1976 in Hanoi geboren. Schon als junger Mann malte er – realistisch wie sein Vater. 1996 begann er ein Kunststudium in Deutschland, an der Hochschule Burg Giebichenstein (Halle). Neun Jahre später reiste er mit einem Stipendium in der Tasche durch ganz Vietnam, auf der Suche nach den Opfern von Agent Orange. Er fotografierte die Menschen und als er wieder zurück in Deutschland war, malte er sie.

 

Es entstanden mehrere Werkreihen, in deren Mittelpunkt zwar meistens Menschen mit Missbildungen stehen, die Nguyen Xuan Huy aber in unterschiedlichen Kontexten, Umgebungen und Stimmungen zeigt. 2011/12 beispielsweise schuf er pseudoheile Welten mit Blumen und Wiesen, über denen nackte Frauen in den Posen von Pin-ups schwebten – Frauen mit makellosen, schönen Gesichtern, aber verdrehten Beinen, kurzen Stummelärmchen, verkrüppelten Füßen. In den neueren Gemälden setzt Huy seine Figuren in düstere, bedrohte Landschaften oder Räume, wo sie in ihrer Nacktheit sehr verletzlich wirken.

Immer wieder tauchen sozialistische Symbole auf. In den älteren Gemälden tragen die Frauen rote Mützen mit Stern, schwingen Hammer und Sichel, lachen siegesgewiss und selbstbewusst – trotz ihrer brutalen Verunstaltungen. Nguyen Xuan Huy mischt in einer fast atemberaubenden Weise heroische politische Symbole, die man von Propagandabildern des sozialistischen Realismus kennt, mit erotischen Versatzstücken aus der Werbung und führt beides ad absurdum. Immer wieder findet man Hinweise auf Werke der Kunstgeschichte von Delacroix bis Manet.

Nguyen Xuan Huy bewegt sich im Raum zwischen Realität und Fiktion. Er versuche, Grenzen zu erfahren, indem er sie überschreite und verwische, schreibt er in seinem Text im Katalog. Der erschien zur Ausstellung, die 2015 in Mannheim und Frankfurt gezeigt wurde und nun unter dem Titel „Make it Rain“ in der Sparkassengalerie in Schweinfurt zu sehen ist.

„Make it Rain“: Gemälde von Nguyen Xuan Huy in der Sparkassengalerie. Eröffnung am 26. Januar, 19 Uhr. Zu sehen bis 1. April

Raum und Form

Fliegende Körper beziwhungsweise Torsi, triste Landschaften, nichträumliche Räume, Kugeln, Flügel und Insignien sozialistischer Kultur – der Fundus in Nguyen Xuan Huys Bildern ist auf den ersten Blick disparat, unzusammenhängend und offenbar sehr individuell geprägt. Allen Arbeiten gemeinsam ist eine beklemmende Atmosphäre, die den Betrachter verunsichert, ihn in seinen Seherwartungen stört.
 
Die räumlichen Inszenierungen wirken bühnenhaft; die Landschaften, oft in ein endzeitliches Dunkel getaucht, täuschen eine Weite vor, die vielleicht gar keinen Bestand hat. In den früheren Bildern werden die Figurationen auf eine neutrale Folie projiziert, weiß oder schwarz, und somit eine räumliche Zuordnung faktisch unmöglich. Aber auch in den neueren Arbeiten wird Räumlichkeit höchstens durch eine den Blick blockierende Wand im Hintergrund angegeben, seltener zusätzlich durch eine Abgrenzung zum Boden hin, oder der Raum versinkt im konturlosen Dunkel.
 
Die frühen Arbeiten erzählen von seiner Heimat Vietnam. Die Distanz ist spürbar, eine Distanz, die aus der geografischen Trennung erwächst, aber gleichzeitig ist da sehr viel Nähe - home is where the heart is - die emotionale Nähe ist deutlich zu erahnen. Wie barocke Engel schweben oder fliegen die nackten Damen durch die Luft, mit verdrehten Gliedmaßen, die erst auf den zweiten Blick mißgestaltet sind. Das Erbe der nach dem großen Krieg geborenen Generationen ist ein schweres; es sind die Kinder von Agent Orange, dem entsetzlichen Vegetationsgift, das die US-Amerikaner tonnenweise als Entlaubungsmittel über dem Dschungel Vietnams abgeworfen haben und das noch Generationen später das Erbgut verändert. Trotzdem scheinen diese Engel stets bester Laune zu sein, hantieren wie in der chinesischen Oper mit viel Pathos etwa mit Hammer und Sichel und scheinen die Segnungen des siegreichen Sozialismus apotheotisch zu feiern. So viel Euphorie kann nur mißtrauisch machen, der Reigen, der dem Betrachter hier vorgeführt wird, hat mehr von einem untergründigen Totentanz als von einem Bacchanal. Die im Gesicht gefrorene Heiterkeit trägt einen giftigen Stachel. 
 
Ritt auf dem Drachen
 
In der Arbeit "The Dream" (2011) sitzt eine Nackte mit Sonnenbrille und Sommerhut in einem Bauernkarren und weist sowohl auf den Betrachter (oder den malenden Künstler) als auch auf die Insignien der Macht des Sozialismus. Absurde Plüschtiere, etwa ein Tiger und eine Schlange, ergänzen das Personal des Karrens, Versatzstücke eines üppigen, aber auch zerstörten Dschungels in Blumentöpfen bilden eine Bühne für das Geschehen in einem schwarzen Bühenraum. Lockt hier ein falsches Paradies oder ist es die zeitgenössische Interpretation des Narrenschiffs, das uns hier begegnet?
 
Auch in "The Break" (2011/12) bevölkern frohgemute Nackte, die zu Zentauren (beziehungsweise zu Pegasoi, allerdings mit Hähnchenflügeln) mutiert sind, einen Dschungel, den sie mit Maschinenpistolen verteidigen. Auch hier wirkt das mehr wie spielerisches Ballett, mehr RTL-Dschungelcamp als tatsächliche kriegerische Auseinandersetzung, eine Werbung für eine Art Jurassic Park, auch das sozialistische Vaterland sieht sich mehr und mehr den Verlockungen des Kapitalismus ausgesetzt.
 
In "Falling" (2013) ist das Desaster komplett. In eine eher düstere Landschaft stürzen zwei Körper, von denen wenig mehr als die Beine zu sehen sind. Zwei Eimer begleiten diesen Sturz, die das Umfeld des Aufschlags in einem merkwürdig weißen Licht, das aus ihnen zu kommen scheint, beleuchten. Kugeln aus einem undefinierbaren Material schweben im Zentrum des Sturzes wie Seifenblasen. Diese Kugeln tauchen in den neueren Bildern immer wieder auf, fremde Elemente, die sich der Zuordnung entziehen, seltsame Kraftfelder oder Energiespeicher vielleicht oder auch rein formale Elemente.
 
Beissende Ironie trifft in Nguyen Xuan Huys Bildern auf eine hintergründig melancholische Weltsicht. Die ständige Präsenz erotischer Verlockung wird immer wieder gebrochen von latenter Gefahr - die Präsenz von Waffen, drohende Abstürze oder eine herausfordernde Leiblichkeit lassen den Betrachter unwillkürlich einen Schritt zurückweichen. Nichts ist hier oberflächlich, so sehr die Oberfläche auch betont wird. Vielerlei inhaltliche Ebenen berühren sich in den Bildern und auch aus manchmal widersprüchlichen Elementen erwächst eine komplexe, dichte und großartige Gestaltung.
 
Kolorismus
 
Die Malerei wirkt oft altmeisterlich, orientiert sich am Kolorismus des 19. Jahrhunderts, dann aber auch wieder an niederländischen oder französischen Meistern. Nguyen Xuan Huy, scheint es, saugt Malerei auf, um sie dann in seine eigenen Vorstellungen von Malerei zu verwandeln. Leicht, beinahe skizzenhaft kann diese Malerei sein, um auf der anderen Seite perfekt modellierte Körperlichkeit im Schlaglicht aus dem Dunkel zu schälen. Voll von Elementen jenseits bekannter Realität arbeitet der Künstler gezielt mit surrealen Irritationen, um zu einer größeren Dichte auf inhaltlicher Ebene zu gelangen und gleichzeitig das Primat der Malerei über den Inhalt zu betonen. Aus diesem Widerspruch festigt sich eine malerische Haltung, die viele Ansätze berücksichtigt und in vielerlei Hinsicht manchmal zu quasi-skulpturalen Kompositionen neigt, etwa in "Waiting until the meat boils III" (2014/15), einer Arbeit, in der sich pralle, kissenhafte Weiblichkeit, Gewänder, ein Hocker, eine Uhr (Hommage an Dali?) und die bereits beschriebenen Kugeln zu einer plastischen Assemblage auftürmen. Gerade bei diesem Bild denkt der kunsthistorisch Bewanderte vielleicht an Vermeer, die räumliche Situation mit Fenster auf der linken Seite, Porträt im Hintergrund (hier: ein Selbstporträt des Malers?), das Geschehen im Vordergrund.
 
Die farbliche Ökonomie in den Bildern Nguyen Xuan Huys ist augenfällig. In den neueren Bildern dominieren in der Regel Grau, Schwarz, Weiß, Rot und zahllose Zwischentöne. Dabei spielt das Lokalkolorit eine bedeutende Rolle, schafft die räumliche Bindung zwischen den einzelnen Teilen erst. Denn am Ende ist diese Malerei vor allem eines: Malerei.
 
Nguyen Xuan Huys Malerei hat sich ihren eigenen Ort geschaffen, irgendwo im Nirgendwo zwischen Vietnam und einer westlichen Kultur, in welcher der Maler heute lebt. Er hat dabei weder seine Identität aufgegeben, noch seine Wurzeln verleugnet. Er nimmt eher eine Position ein, die beide Lebensorte in der Welt einschließt und beides, Ost und West, beobachtet, kommentiert, verwandelt. Verwandelt in eine wunderbare Malerei, die sich auf ihre ureigene Art und Weise bildet, transformiert und lebt.

Meine Experimente loten die Grenze zwischen Realität und Fiktion aus. Ich versuche Grenzen zu erfahren, indem ich sie überschreite oder verwische. Das fotonaturalistische Bild nimmt die Glaubhaftigkeit des Fotos auf und negiert sie zugleich, indem es sich als Gemaltes präsentiert. Durch die Gattungsfusion gewinnt das Fotohafte eine andere Bedeutung, eine andere Informationsqualität. 

Ich gehe über das Dokumentarische hinaus, damit es nicht mehr unter dem Aspekt des historischen Ereignisses erscheint, sondern unter dem einer allgemeinen Weltbetrachtung. Dies erreiche ich, indem ich es in einen fiktiven Kontext stelle. Das Zusammenspiel von Wahrhaftigkeit und Künstlichkeit oder das Prinzip des Sowohl-als-auch problematisiert das Spannungsfeld zwischen Realem und dem, was darüber hinausgeht.

Meine Intentionen lasse ich bewußt im Vagen. Aus der Perspektive der vietnamesischen Nachkriegsgeneration versuche ich die Hintergründe unserer Existenz zu befragen. Die Bearbeitung der Geschichte ergibt ihrerseits mehr und mehr Fragen, die offen bleiben und noch mehr Fragen provozieren.

Agent Orange ist nur eines der vielen Mittel im Kampf der Systeme gewesen. Freund und Feind wurden davon betroffen. Das „Entlaubungsmittel“ erzeugt vor Ort, per Abwurf, ein genetisches Labor. Der Kampfstoff als ein Werkzeug der Zukunft, die Evolution als Kriegshandlung, die sich vom Ort der Kampfhandlung unabhängig macht. Die Unversehrtheit, gerade der Nachgeborenen, ist ein Glücksfall, um dessen Achse sich aber die Fragen was-wäre-wenn und was-wird-sein in einem Wirbel aus Geschichte und Zukunft ständig neu, sehr persönlich, körperlich, von innen stellen. Die Darstellung der Agent Orange-Opfer ist kein Versuch der Anklage – es geht nicht um die Moral, nachträglich ist sie zu leicht zu haben, verleitet zu leichtfertiger Rechthaberei. Der Kampfstoff und seine Folgen sind nur ein Ausgangspunkt auf der Suche nach einer Signatur existenzieller Optionen und eine Spur der Verwerfung, der Ohnmacht, des Ausgeliefertseins des Menschen, welche die Mechanismen der Fremdbestimmung darin einschreiben.

Seit 2007 beschäftige ich mich nicht mehr mit Dokumentarfotos, sondern versuche, eine fiktive „heile Welt“ zu „erschaffen“, in der alle Menschen missgebildet sind, und dennoch heiter, in der sie überzeugt einer „geilen“ Ideologie folgen. Meine Arbeit scheint sich zu politisieren, ich interessiere mich jedoch lediglich für die Indoktrinationsmechanismen von Ideologien und deren Folgen, die aus meiner Sicht zur quasi „seelischen Missbildung“ des Menschen führen können. Die Indoktrination scheint mir ein Mechanismus, der den menschlichen Geist wie Knetmasse behandelt, die man beliebig, willkürlich und nicht selten rücksichtslos mit Gewalt für gewisse Zwecke verformt.

In meinen Bildern spielt die Parodie der politischen Wertesysteme eine große Rolle. Ich benutze dabei eine Bildsprache, die sich auf die in Vietnam wie auch in anderen postkommunistischen Territorien anzutreffenden Monumentaldenkmale und Propagandabilder des sozialistischen Realismus beziehen. Die vorgebliche Seriosität dieser Gattung wird in meinen Bildern durch profanen softpornographischen Anschein ersetzt. Das Erotische dient hier als Werbungsmittel einer Ideologie, so, wie man nackte Haut in der (kapitalistischen) Werbung als Verlockung für irgendein Produkt benutzt, das eigentlich mit nackter Haut gar nichts zu tun hat. Der schöne Schein trügt, die Körper der Frauen („das Schöne“) sind deformiert, Erotik verkehrt sich in Abscheu, das Begehren bleibt im Hals stecken. Es ist wie ein schöner Traum, der sich in einen Alptraum verwandelt, sich als Alptraum verwirklicht.

Meine Arbeiten beziehen sich oft mehr oder weniger auf Werke der Kunstgeschichte. Manche stehen in direkter Verbindung zu historischen Werken: Der „Garten der Lüste“ bezieht sich auf Hieronymus Boschs gleichnamiges Triptychon, die Chickenwing Company konterkariert Goyas "El sueño de la razón produce monstruos" aus seinen "Caprichos". Manche stehen nur in indirekter Verbindung mit anderen Werken. Bei „My Lai“ denke ich an Manets „Frühstück im Freien“, bei „Generation X“ an „Adam und Eva“ von Albrecht Dürer, bei Portraits von Opfern des Agent Orange an Portraits der Hollywoodstars von Andy Warhol; bei „Koste, was es wolle“ und „Prozession“ an „Die Freiheit führt das Volk“ von Delacroix… und so weiter und so fort.

Wie auch immer, ich beabsichtige, eine andere Version, meine Version dieser Werke zu schaffen - durch meine Geschichte verwandelt, durch meine Erfahrung aktualisiert, mit der Triebkraft jener Höhlenmenschen, die ihre Version der Gegenwart auf die Höhlenwand malten.

Nguyen Xuan Huy

Thüringer Allgemeine, 06.02.15

Verstümmelte Leiber, Hähnchenflügel und grelle Orgien: Der Künstler malt Werke, die anziehen und abstoßen zugleich

Erfurt. Als Jörk Rothamel die Bilder von Nguyen Xuan Huy zum ersten Mal gesehen hat, war er wie elektrisiert. "Was für eine Kraft." Aber die von Hanoi nach Erfurt zu transportieren, dachte der Galerist.

"Was für ein Aufwand." Dann die Überraschung, als er die E-Mail des Künstlers bis zum Ende gelesen hatte: Sie kam aus Nordhausen. Dorthin hatte es den heute 39-Jährigen aus Vietnam vor gut zehn Jahren verschlagen. Die Mutter war in den Achtzigern als Gastarbeiterin hergekommen. Der Sohn folgte ihr vor 19 Jahren und studierte Kunst an der Burg Giebichenstein. Sein Vater hatte ihm beigebracht zu malen, realistisch zu malen.

Darin entwickelte Nguyen Xuan Huy eine technische Meisterschaft, von der Jörk Rothamel sagt, sie sei heute selten geworden. Morgen eröffnet er in seiner Galerie in Erfurt die Ausstellung "Talking About The Blue Sky", die Werke von Nguyen Xuan Huy von 2013 und 2014 zeigt.

Großformatige Ölgemälde, die zugleich anziehen und abstoßen. Wunderschöne nackte Frauen - mit deformiertem Körper. Mischwesen, an denen das Trauma sichtbar wird, das Nguyen beschäftigt. Es ist das Trauma seines Heimatlandes: die Verheerungen von Agent Orange.

Aus dem Moor wachsen verknotete Beine empor

Amerikanische Flugzeuge versprühten das Gift während des Vietnamkriegs über dem Dschungel, um die Bäume zu entlauben und den Vietcong-Kämpfern ihr Versteck zu nehmen. Sie hinterließen Menschen, denen das Gift das Erbgut zerstörte. Deren Kinder mit schweren Fehlbildungen auf die Welt kommen, bis heute.

Die Angst davor dominiert auch das Leben von Nguyen Xuan Huy. Bis sein Sohn vor einigen Jahren gesund geboren wurde, spukte in seinem Kopf die Panik, auch sein Baby könnte eines dieser behinderten Kinder sein. Er zehrt noch von den Eindrücken, die er sammelte, als er vor zehn Jahren durch Vietnam reiste und sah, was das Gift anrichtete: Frauen mit zwei Köpfen, Kinder ohne Beine, ohne Augen.

Sie dominierten die Panoramen, die Rothamel 2011 ausstellte. Nackte Frauenkörper in schrillen Farben auf weißem Hintergrund, die sozialistische Propagandamalerei zitierten, volkstümliche vietnamesische Motive und westliche Werbebilder; die an die verdrehten Gesichter von Francis Bacon erinnerten und an Motive von Hieronymus Bosch und Botticelli.

Die neueren Arbeiten sind anders. Ebenso düster, ebenso erschreckend, aber da ist keine weiße Fläche mehr. Stattdessen ein Hintergrund, der geradezu deutsch anmutet. Ein dunkler Wald, in dem eine nackte Frau rittlings auf einem Baumstamm sitzt - ihr Gesicht ein berstender Taubenkadaver. Ein Moor, aus dem sich ineinander verknotete Beine räkeln - grell ausgestellt in einem kalten Licht aus Eimern.

Wenn es in Deutschland Herbst wird, ergreife ihn immer die Melancholie, hat Nguyen Xuan Huy seinem Galeristen erzählt. Der Künstler sei mental in Europa angekommen, findet Rothamel, der dessen Klugheit schätzt und seine Aufmerksamkeit für Dinge, die schieflaufen in unserer Gesellschaft: für die "Shifting Baselines" - Veränderungen, die sich so schleichend vollziehen, dass wir sie gar nicht mehr als solche wahrnehmen.

Zum Beispiel die Vereinzelung im Turbokapitalismus. Im Tryptichon "Waiting Until The Meat Boils" (Warten, bis das Fleisch kocht) sitzt ein Mann - auch das eine Neuheit: Nguyen malt jetzt auch Männer - und starrt auf ein Stück rohes Fleisch.

Ein Vergänglichkeitsmotiv - doch da könnte auch einer vereinsamt auf seinem Smartphone tippen, während neben ihm eine Orgie verschlungener nackter Frauenleiber tobt. Auf einem anderen Bild sind zwei Mädchen an der Zunge zusammengewachsen. Der Propaganda-Himmel ist nur noch ein Knäuel. Frei sprechen aber können sie noch immer nicht.

Auch kleinformatigere Leinwände sind zu sehen, nicht minder ausdrucksstark. Auf einer porträtiert Nguyen ein Mädchen im Jeans-Rock. Ihre Brüste sind nackt, auf dem Rücken trägt sie Flügel. Sie sieht aus wie ein Engel - doch es sind Hähnchenflügel, traurig und federlos. Fliegen kann sie damit nicht.