Erfurt. Malen, sagt Jörg Ernert, habe „viel mit Erkennen zu tun“, damit, die sichtbare Welt neu zu finden „auf der Fläche“.
 
 
 
Galerist Jörk Rothamel vor Jörg Ernerts „Nachbild“ von Piranesis Karzer. Foto: Alexander Volkmann
Galerist Jörk Rothamel vor Jörg Ernerts „Nachbild“ von Piranesis Karzer. Foto: Alexander Volkmann

Und tatsächlich, die eindrucksvollen Gebäudeansichten des 1974 geborenen Leipziger Malers in der Erfurter Galerie Rothamel sensibilisieren auch den Betrachter, aufmerksam zu sein für das, was vor sich geht in einem Raum.
 
Für Lichtstrahlen, die durch ein Gitterfenster steigen, für grafische Muster, die ein Schatten auf den Boden zeichnen, für strahlenförmige Kreuzrippengewölbe und verschachtelte Raumfluchten, hinter denen sich in der Tiefe immer neue Einblicke aufzutun scheinen. 
 
Welch reine Betrachtung des Raumes Jörg Ernert malt, der als Professor an der Hochschule für Grafik und Buchkunst den Nachwuchs der Leipziger Schule ausbildet, wird vor allem deutlich, wenn man sich die Vorbilder zu seinen „Nachbildern“ ansieht: die düster dramatischen Kerker-Fantasien des italienischen Kupferstechers Giovanni Battista Piranesi. 

In scharfen Kontrasten und mit eingehender Aufmerksamkeit für Ketten, Käfige und baumelnde Galgen schuf er Mitte des 18. Jahrhunderts seine Carceri-Serie: 16 Radierungen, die den dräuenden Schrecken so genüsslich ausstellen, dass Sado-Maso-Assoziationen nicht fern liegen. „Architektur-Porno“, findet Galerist Rothamel – Anspielungen, die bei Jörg Ernert verschwinden, sublimiert würden. 

„Nachbilder“ im Hosentaschen-Format

Neben den rot, gelb und blau leuchtenden Variationen des römischen Kerkermeisters schafft  Jörg Ernert zauberhafte „Nachbilder“ im Hosentaschen-Format: neue Blicke auf Meisterwerke der Kunstgeschichte; auf Holzschnitte Hokusais, auf bürgerliche Innerlichkeit bei Chardin, auf Hoppers melancholische Kino-Frau und seinen Büroangestellten im Fensterlicht, auf den Einsamen in Georg Scholz’ Bahnwärterhäuschen. 
 
Zuweilen muss man bei diesen – übrigens für unter 1000 Euro zu habenden – Bildchen überlegen, was es eigentlich ist, das anders ist am ganz eigenen Ernert-auf-Hopper-Blick als am Hopper-Blick. Und betrachtet abgenudelte Postkarten-Motive, als sehe man sie zum ersten Mal.

Was passiert, wenn die Malkultur der Leipziger Schule auf Schlüsselwerke der Kunstgeschichte trifft? Jörg Ernerts neue Arbeiten führen es vor. Farben, Formen und inhaltliche Zusammenhänge erscheinen in einem bisher ungesehenen Licht. 

Wer sich mit Malerei beschäftigt, weiß, daß die Moderne alle denkbaren Grenzen niederlegte. Zugleich hinterließ sie ein Feld der Zerstörung. Darin glich sie ihren häßlichen Zeitgenossen, den Ideologien des 20. Jahrhunderts. Zeichnerische Virtuosität, malerische Meisterschaft und kompositorische Raffinesse erschienen im „Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit“ (W. Benjamin) entbehrlich. Enormes Wissen ging verloren. Jörg Ernert spürt ihm nach und faßt neu, was heute wieder von Nutzen scheint. Ernert ist weder Nostalgiker noch europäischer Lokalpatriot - die malerische Fassung von Ana Menditas Fotoperformance  "On giving Live" belegt es, ebenso Exkurse zu Hokusai und Hopper.

Jörg Ernert unternimmt seit vielen Jahren malerische Ausflüge zu anderen Meistern, und wiederholt schuf er Neufassungen ihrer Werke in seinem eigenen Duktus. Ernerts bevorzugtes Interesse gilt der Frage, wie weit Abstraktion gehen kann, wenn der Gegenstand noch erkennbar bleiben soll, auf welche Weise Reduktion das Bild bereichert. Seine Serien „Kletterhalle“ und „Chinatown“ beantworten das im Bezug auf das Genre der Interieurmalerei tiefgreifend.

Die „Nachbilder“ rollen das Thema noch umfassender auf. Wir sehen Landschaften, Veduten, Genreszenen, Historienbilder und Porträts – alle meisterlich ausgeführt. Zugleich gestatten sie uns einen Blick auf Ernerts Arbeitsweise. Zuerst skizziert der Künstler eine kleine Studie, die Peinture, Duktus und Kolorit des Vorbildes erfaßt. Die weiteren Fassungen deklinieren das Motiv in die eigene Bildsprache – von der Farbigkeit bis zu Verschiebungen kompositorischer Schwerpunkte.

Ernerts neue Bilder analysieren ein Phänomen, das schon Rubens, Rembrandt oder Tizian faszinierte: Kunstwerke wirken am lebendigsten, wenn sie dem Auge nur ein optisches Gerüst liefern, welches vom Gedächtnis komplettiert wird – und zwar nicht nur mit visuellen Erinnerungen, sondern auch mit Geruch, Geschmack, Empfindungen und Erinnerungen aller Art. Ernerts Nachbilder sind ein Fest der Malerei und aller Sinne. Sie gestatten uns einen frischen Blick auf Sternstunden der Malerei.

Jörg Ernert wurde 1974 geboren, studierte an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig, absolvierte ein Meisterschülerstudium, arbeitet seitdem freischaffend und lehrt. Seit 2012 bekleidet er an der HGB eine Professur für Malerei.